Die Mär vom modernen Diebstahl
Mit dem Leistungsschutzrecht sollen die Digitalplattformen zur Kasse gebeten werden. Dabei sind ausgerechnet sie es, die den Verlagshäusern zu Reichweite verhelfen und zur Medienvielfalt beitragen.
Vor hundert Jahren waren es noch Zeitungsjungen, die an den Strassenecken die Schlagzeilen der Tageszeitungen verschrien und eiligen Passanten die druckfrischen Blätter verkauften. Junge Buben standen im Morgengrauen auf und stellten zu jeder Jahreszeit gegen einen bescheidenen Entgelt den effizienten Absatz der Presseerzeugnisse sicher. Einst kam es wegen einer Schmälerung der Bezahlung zu einem Streik der «Newsboys», was zu einem Zusammenbruch des Zeitungsumsatzes führte.
Medienhäuser erhöhen ihre Reichweite dank den Digitalplattformen
Heutzutage werden die Schlagzeilen auf Digitalplattformen verbreitet, und zwar in Sekundenschnelle, in alle Ecken der Welt, und kostenlos. Für Verlage ist diese elektronische Verbreitung von existenzieller Bedeutung, denn sie verschafft ihnen ununterbrochene und automatisierte Reichweite zu Millionen von Leserinnen und Lesern. Mit einem Klick werden diese auf die Zeitungsportale weitergeleitet, wo ihnen das gesamte Angebot des Verlags präsentiert wird. Inklusive Werbung.
Man reibt sich die Augen, dass ausgerechnet die Plattformbetreiber, die den Medienverlagen zu dieser wertvollen Reichweite verhelfen, des modernen Diebstahls bezichtigt und als billige Velodiebe beschimpft werden. Wie in einer verkehrten Welt werden diese für ihre Dienstleistung zur Kasse gebeten und sollen die Verlagshäuser künftig für das Recht, deren Schlagzeilen zu verbreiten, entschädigen – mittels Leistungsschutzrecht. Ein passenderer Begriff dafür ist «Link-Steuer», denn sie beschreibt die Forderung unverblümt: im Internet, das dazu geschaffen wurde, Inhalte beizusteuern und Links für jeden Mensch kostenlos öffentlich zu machen, sollen Medienverlage – und nur sie! – für eben solche Links eine Steuer einkassieren.
Streitfragen mit sogenannte Snippets, welche die Verlage selber erstellen
Das Narrativ des Diebstahls gründet auf einer seltsamen Konstruktion: die Textabrisse, die unter den Links platziert sind und einer Kurzinfo über den Inhalt des Artikels entsprechen, seien eine Urheberrechtsverletzung und müssten folglich vergütet werden. Diese sogenannten Snippets würden die redaktionellen Inhalte vorwegnehmen und den Internet-User davon abhalten, den ganzen Artikel zu lesen. Damit würden den Medienportalen die Leserinnen und Leser und damit gigantischer Umsatz entzogen.
Man muss allerdings wissen, dass die Medienverlage selbst darüber entscheiden, ob solche Snippets erscheinen und wie sie lauten. Und sie nutzen diese Möglichkeit ausgiebig, um die Leserschaft anzuziehen. Der Widerspruch der Anklage ist eklatant: einerseits sollen Tech-Plattformen wegen der Snippets für den Leserschwund verantwortlich sein, andererseits setzen die Medienportale Snippets gezielt ein, um die Leserschaft anzuziehen.
Der Bundesrat treibt die «Link-Steuer» mit Verve voran
Trotzdem hat der Bundesrat – unmittelbar nach dem Scheitern des Medienförderungsgesetzes – diese Link-Ssteuer mit Verve vorangetrieben. Angesichts des angespannten Staatshaushalts dürfte es ihm gerade recht sein, die Medienförderung anstatt mit Bundessteuern mit einer privaten Link-Ssteuer herzuzaubern. Ein Schelm, wer sich Böses denkt? Mitnichten.
Wirft man einen Blick in den Gesetzesentwurf, stolpert man schnell über eine grobe Unstimmigkeit: Die Regulierungsfolgeabschätzung kommt nämlich zur Erkenntnis, dass es in Bezug auf die Snippets gar kein Marktversagen gibt und das Leistungsschutzrecht kein zielführendes Instrument zur Förderung der Medienqualität ist. Tatsächlich hat das Leistungsschutzrecht in anderen Ländern zu enttäuschenden Resultaten geführt. Weshalb bloss hat sich der Bundesrat über die Empfehlungen des Berichts hinweggesetzt und will die umstrittene Link-Steuer à tout prix durchboxen? In einer Antwort auf eine entsprechende Interpellation gesteht er, dass es eigentlich gar nicht um die Snippets, sondern um den Schutz der Werbeeinnahmen zu Gunsten der Medien geht.
Die wirkliche Frage lautet: Wie sollen Medienqualität und Medienvielfalt angehoben werden?
Wirtschaftsfreiheit, anyone? Hier wird also unter dem Vorwand einer Urheberrechtsverletzung, die gar nicht stattfindet, eine private Steuer auf Snippets, die eigentlich den Medien selbst dient, eingeführt, um einen staatlichen Eingriff in den Wettbewerb um Werbegelder zu rechtfertigen. Wörtlich heisst es: «Medienunternehmen könnten die Nutzung von Snippets durch die grossen Online-Plattformen technisch verhindern. Da aber die Snippets gleichzeitig Reichweite zu Gunsten der Medienunternehmen generieren und damit ihre Position im Wettbewerb um Werbeeinnahmen stärken, hätte ein Verzicht auf Verlinkung zur Folge, dass sich die schwierige Situation der Medienunternehmen weiter verschlechtert.» Quod erat demonstrandum.
Die Mär vom modernen Diebstahl an den Medien lenkt von der eigentlichen Frage ab, wie die Qualität des Journalismus und die Medienvielfalt in der Schweiz wieder angehoben werden sollen. Es geht um hochstehende, gut recherchierte Berichterstattung, die kritische Würdigung von Geschehnissen und letztlich die ausgewogene Informationsbeschaffung für mündige Menschen. Einzig das kann eine Orientierung für staatliches Handeln sein. Eine Belohnung von möglichst reisserischen Snippets wird dieses Ziel hingegen nicht erfüllen.
Staat übersteuert Wettbewerb mit protektionistischen Massnahmen
Es ist betrüblich zuzusehen, wie unsere Wirtschaftsfreiheit – Wiege unserer Innovationskraft – schrittweise vom Staat übersteuert und der Wettbewerb mit protektionistischen Massnahmen eingeschränkt wird. Nach der Lex Booking, der Lex Netflix, der Lex Huawei und viele mehr sollen nun mit der Link-Steuer auch Werbeeinnahmen staatlich umverteilt werden. Es ist zu hoffen, dass das Parlament den Mut aufbringt, diese Tendenz zu durchbrechen.
Judith Bellaiche ist Geschäftsführerin von Swico, dem Wirtschaftsverband der Digitalindustrie. Im 2019 wurde sie in den Nationalrat gewählt, wo sie sich seither für Digitalisierung, fortschrittliche Rahmenbedingungen und einen attraktiven Innovationsstandort engagiert. Zuvor war sie je acht Jahre Gemeinde- und Kantonsrätin und in diversen Positionen der Privatwirtschaft, unter anderem in der Finanz- und Beratungsbranche, tätig. Judith Bellaiche ist ausgebildete Juristin und hat im 2017 einen Executive MBA an der Universität St. Gallen absolviert. Sie ist ausserdem Verwaltungsrätin einer Vermögensverwaltungsboutique.