«Langweilig wird es mir nie»

Arbeitgeberverbands-Direktor Roland A. Müller erklärt, warum ihm lange Arbeitstage nichts ausmachen, und warum eine Vier-Tage-Woche kein Allheilmittel gegen den Fachkräftemangel ist.

Für Roland Müller ist der Fachkräftemangel ein zentrales Problem: Weil zudem geburtenschwache Jahrgänge nachrücken, fehlen bis 2050 in der Schweiz 1,3 Millionen Erwerbstätige. (Foto: Arbeitgeberverband)

Roland Müller, was heisst für Sie Macht*? 
Roland Müller: Das hängt von der Optik ab. Für mich ist Macht die Möglichkeit, auf Entscheide Einfluss zu nehmen oder selbst entscheiden zu können, um mit dem eigenen Verhalten etwas zu bewirken. Wird Macht unreflektiert oder womöglich im Eigeninteresse ausgeübt, ist der Begriff negativ konnotiert. Solange Macht aber nicht missbraucht wird, kann sie ein gestalterisches Element sein.

Wie mächtig ist der Arbeitgeberverband im Vergleich zu Economiesuisse und Gewerbeverband?  
Müller: Jeder Verband hat seine Mitglieder, deren Interessen er abholt und vertritt. Der Arbeitgeberverband ist bedeutend als Dachverband der Wirtschaft mit dem höchsten Organisationsgrad. Wir repräsentieren die Interessen der Wirtschaft in einem sehr breiten Branchenspektrum, mit Ausnahme des Kleingewerbes, welches im Gewerbeverband organisiert ist. Unsere Themen sind der Arbeitsmarkt, die Bildung und die Sozialpolitik. Unsere Partner nehmen uns ernst. Ich glaube sagen zu dürfen, dass wir die Anliegen der Mitglieder faktenbasiert, anständig und lösungsorientiert vertreten und deshalb anerkannt werden.

Wessen Stimme hat am meisten Gewicht? 
Müller: Jede auf ihre Art, denn jeder Verband hat seine eigenen Anliegen und seine eigene Klientel. Uns beschäftigt alles, was den Menschen im Erwerbsleben betrifft, und wir sind Sozialpartner – anders als zum Beispiel Economiesuisse. Das wird von aussen nicht immer so differenziert wahrgenommen. Je nachdem, welchen Bereich man betrachtet, bekommt man das Gefühl, der eine Verband sei mächtiger als der andere. Je nach Zielgruppe ist die Wahrnehmung eine andere.

Neuerdings ziehen alle drei Wirtschaftsverbände demonstrativ am gleichen Strick und haben auch den Bauernverband mit ins Boot geholt. Was bringt das den Arbeitgebern? 
Müller: 80 Prozent unserer Interessen sind deckungsgleich, die vertreten wir bewusst gemeinsam – nicht zuletzt mit Blick auf die Wahlen. Weil wir verschiedene Zielgruppen ansprechen können, werden wir stärker wahrgenommen. So können wir der Bevölkerung zeigen, welche Werte wir gemeinsam vertreten: allen voran eine erfolgreiche Wirtschaft für Sicherheit und Stabilität. Am Ende profitieren alle davon.

Gilt Ihre grösste Sorge dem Fachkräftemangel? 
Müller: Momentan schon. Das übergreifende Hauptproblem ist die Demographie. Weil geburtenschwache Jahrgänge nachrücken, werden in der Schweiz bis 2030 eine halbe Million Arbeitskräfte und bis 2050 sogar rund 1,3 Millionen Erwerbstätige fehlen. Deshalb haben wir soeben ein Paket mit einer ganzen Reihe von Lösungsansätzen publiziert.

Wer arbeitet, achtet heutzutage auf die Work-Life-Balance – wobei sich das Gewicht weg von der Arbeit hin zum «Leben» beziehungsweise zur Freizeit verschiebt. Wie geben Sie Gegensteuer? 
Müller: Indem wir bei den Rahmenbedingungen ansetzen. Wären die Löhne tief und das wirtschaftliche Umfeld schwierig, würden viele ihre Präferenzen anders gewichten. Weil es uns aber gut geht, haben gerade junge Menschen den Anspruch, das zu tun, was sie gerne tun. Sie wollen nicht nur ihre Einkünfte verbessern, sondern auch ihren Lebensstil. Der Zeitgeist und unser politisches System sind so, dass jeder selber entscheidet, was er tut und was nicht. Wir müssen versuchen, die Rahmenbedingungen so zu optimieren, dass positive Anreize die Entscheide beeinflussen.

Wie genau? 
Müller: Wir stellen zum Beispiel fest, dass die Bereitschaft, das Pensum zu erhöhen, fehlt, weil der zusätzliche Lohn gleich wieder wegbesteuert oder für die Betreuung der Kinder ausgegeben wird. Also müssen wir dafür sorgen, dass die Kosten für die Drittbetreuung sinken und die Paare nicht mehr gemeinsam besteuert werden, sondern individuell. Wir hinterfragen aber auch die Bilder, die in der Gesellschaft bestehen.

Welche Bilder? 
Müller: Nehmen wir die Karriereplanung. Neue Arbeitszeitmodelle können bewirken, dass die Menschen länger im Arbeitsmarkt verbleiben. Zum Beispiel dank einer «Bogenkarriere»: Man reduziert gegen Ende des Berufslebens etwa den Beschäftigungsgrad und gibt die Führungsverantwortung teilweise ab, kann dafür aber länger als bis 65 Jahre arbeiten. Solche auch gesellschaftspolitischen Themen müssen breit diskutiert werden. Wir wissen ja nicht, wohin die Entwicklung steuert. Vielleicht ändert aber auch die Gesellschaft so, dass wir alle bereit sein werden, auf Ansprüche zu verzichten.

Indem wir uns einschränken? 
Müller: Wenn ich bereit bin, längere Lieferfristen in Kauf zu nehmen, entspannt sich auch der Fachkräftemangel. Wenn ich bereit bin, mangels Personal in Selbstbedienungsrestaurants zu essen, ist das ebenfalls in Ordnung. Ich bezweifle aber, dass eine Mehrheit in diesem Land Komforteinbussen wegen des Arbeitskräftemangels akzeptieren würde. Wir als Dachverband sind für die Rahmenbedingungen zuständig und haben deshalb einen Massnahmenplan verabschiedet, von dem wir uns sehr wohl bewusst sind, dass wir auch die Arbeitgeber motivieren müssen, ihren Teil beizutragen und zum Beispiel flexible Arbeitsmodelle anzubieten.

Oder Behinderte in den Arbeitsprozess aufzunehmen, was Sie ebenfalls fordern? 
Müller: Hier gibt es spannende Projekte. Dabei werden Behindertenwerkstätten in die Wertschöpfungskette integriert, indem sie eine Arbeit erledigen, die sonst am Zeitdruck scheitern würde. Statt «just in time» aus Übersee kleinere Industrie-Komponenten zum Beispiel für Aufzüge zu beziehen, werden diese ab Lager einer solchen Werkstätte im Inland bezogen. Aber wir müssen realistisch bleiben: Leistungsbeeinträchtigte Menschen können nicht alle Arten von Arbeiten erledigen. Wir können aber neue Formen suchen, um die Fähigkeiten der Leute so zu bündeln, dass sie zum Tragen kommen.

Was halten Sie von kreativen Ideen wie der Vier-Tage-Woche bei gleichem Lohn? 
Müller: Das kann für gewisse Unternehmen funktionieren, aber nicht flächendeckend. Es gibt Unternehmen, die gut damit fahren, die sollen das auch praktizieren. Im Detailhandel oder bei einem Busbetrieb beispielsweise geht das nicht.

Welche anderen Probleme beschäftigen den Direktor des Arbeitgeberverbands?
Müller: 
Die Finanzierung der Sozialwerke ist für uns von grosser Bedeutung. Die Frage lautet: Wer zahlt wieviel wie lang und wie hoch sind die Leistungen? Aktuell stellt sie sich vor allem in der Altersvorsorge; aber auch bei der Invalidenversicherung mit ihren 10 Milliarden Schulden besteht Handlungsbedarf. Die Arbeitslosenversicherung ist glücklicherweise dank der tiefen Arbeitslosenquote besser unterwegs.

Wie muss man sich Ihren typischen Arbeitstag vorstellen?
Müller: 
Es kommt darauf an. Es gibt Arbeitstage, an denen ich die Kinder auf dem Weg zur Arbeit in die Schule begleite, die Jüngeren besuchen das Gymnasium. Danach fahre ich weiter nach Bern und verbringe dort den Tag in Sitzungen.

Fahren Sie immer mit dem Wagen zur Arbeit?
Müller:
 Nein, das ist die Ausnahme. Meist nehme ich den Zug und fahre direkt nach Bern. Wahrscheinlich habe ich mein GA jeweils bis zum Sommer schon ausgefahren.

Woraus besteht Ihre Arbeit?
Müller: 
Die Hälfte der Zeit verbringe ich mit Sozialpartner-Mandaten. Zum Beispiel gehöre ich dem Verwaltungsrat der Suva an und dem AHV-Fonds Compenswiss. Dazu kommt die klassische Lobbytätigkeit für den Verband, das heisst Gespräche mit Parlamentariern, Bundesräten und Vertretern der Bundesverwaltung. Ausserdem unterrichte ich das, worüber ich den ganzen Tag spreche – nämlich Arbeitsrecht und Sozialversicherungen –, an der Universität. Die Vorlesungen oder Referate schliessen häufig meinen Arbeitstag ab, bevor ich nach Hause gehe und den Abend mit meiner Frau, unseren vier Kindern und den zwei Hunden verbringe. Langweilig wird es mir nie.

Dieses Pensum würden Sie in einer Vier-Tage-Woche kaum schaffen, selbst wenn Sie mehr als zehn Stunden pro Tag arbeiten würden? 
Müller: Nein, das würde ich nicht. Ich muss aber relativieren: Nicht jede Stunde ist gleich intensiv, vieles fliesst bei mir ineinander über. Mich im Zug auf eine Vorlesung in Arbeitsrecht vorzubereiten, macht mir Spass, denn ich lerne immer dazu. Für mich ist das fast Entspannung – anders, als wenn ich irgendwo ein Referat halten muss, was dann wiederum intensiv ist. Die Frage nach dem Zehn-, Zwölf- oder Mehr-Stunden-Tag ist deshalb nicht so einfach zu beantworten. Teilweise sind es Präsenzzeiten, teilweise Abendanlässe. Nur weil es immer die gleiche Thematik betrifft, ist das Pensum überhaupt machbar. Sonst ginge das gar nicht.

Das klingt nach einer Sieben-Tage-Woche. Richtig? 
Müller: Ich bin mit einer Musikerin verheiratet, was zu gegenseitigen Synergien führt. Wenn ich ein Konzert in der Tonhalle besuche, an dem meine Frau spielt, ist es für sie Arbeit und für mich Erholung. Wenn mich meine Frau an einen Abendanlass eines Verbands begleitet, der ein Jubiläum feiert, ist es umgekehrt. Es ist eine Frage des Naturells und der Organisation, es muss einem entsprechen. Viele wollen das gar nicht und machen lieber Sport oder etwas ganz anderes.

Sie nicht? 
Müller: Ich bin kein grosser Sportler. Meine Aktivitäten beschränken sich fast nur auf meinen Bereich sowie denjenigen meiner Frau. Bei den Kindern ist es ähnlich: Wir haben eine Familienband, die Fiddling Millers, bei der alle mitspielen.

Sie auch?  
Müller: Nein, ich bin der Logistiker und Koordinator. Meine Frau und die Kinder spielen alle Bratsche oder Geige, von Klassik über Filmmusik und Abba bis hin zu Schlagern von Helene Fischer.

Wer darf Ihnen privat widersprechen? 
Müller: Da bin ich grosszügig: Privat darf mir fast jeder widersprechen, aber mein direktester Sparring Partner ist meine Frau, also tut sie es auch am häufigsten. Mit unseren Kindern haben wir auch immer wieder hochspannende Diskussionen, und da gibt es hie und da auch inhaltlichen Widerspruch. Es sind nicht immer alle der Meinung eines Arbeitgebervertreters.

Erholung steht bei Ihnen nie auf dem Programm?  
Müller: Ich brauche keine langen Erholungsphasen. Solange alles Spass macht, funktioniert das gut. Vielleicht ist es ein kleiner Luxus, denn was ich mache, mache ich gern. Die Themen, mit denen ich mich beim Arbeitgeberverband beschäftige, begleiten mich schon seit der Uni, und ich finde sie heute noch spannend. Wenn man etwas gerne tut, ist es nicht so belastend, und man schaut nicht immer auf die Uhr, um endlich von der Arbeit zur Freizeit wechseln zu können. Wahrscheinlich ist es in der heutigen Zeit die hohe Kunst, beides bis zu einem gewissen Grad zu verbinden. Man muss es aber im Griff behalten. Da hat auch der Arbeitgeber eine Verantwortung: Er muss nicht nur dafür sorgen, dass die Leute ihre Leistung hundertprozentig erbringen, sondern auch darauf achten, dass es ihnen dabei gut geht.

Roland A. Müller (59) studierte in Zürich Rechtswissenschaften, erwarb das Anwaltspatent und habilitierte mit einer Studie zur betrieblichen Arbeitnehmervertretung. Ins Berufsleben stieg er als Sekretär beim Arbeitgeberverband der Maschinenindustrie ein, wechselte danach zum Versicherungsverband und später zum Schweizerischen Arbeitgeberverband, den er seit zehn Jahren als Direktor leitet. Daneben ist er Titularprofessor für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich sowie nebenamtlicher Arbeitsrichter in Zürich. Der Verfasser zahlreicher Publikationen ist Mitglied der FDP und lebt mit seiner Frau und den vier Kindern im Alter zwischen 14 und 21 Jahren in Erlenbach (ZH).

*In der Schaltzentrale der Macht
Sie sitzen auf entscheidenden Positionen, aber selten im Rampenlicht: Generalsekretäre von Parteien oder eidgenössischen Departementen, Geschäftsführerinnen von Verbänden oder Direktoren von Nichtregierungsorganisationen. Braucht die Schweiz politische Lösungen, helfen sie diese zu entwickeln. In regelmässigen Abständen wollen wir im Gespräch die Schaltzentralen der Macht ausleuchten.

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