Wie der Krieg in der Ukraine die Welt verändert hat
Russlands Invasion vor einem Jahr hat ein neues Zeitalter eingeläutet. In diesen fünf Bereichen ist die Abkehr von alten Gewissheiten am sichtbarsten.
Die Entscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, vor einem Jahr eine gross angelegte Invasion in der Ukraine zu starten, war ein globaler Schock. Er hatte das «abrupte Ende von 30 Jahren Globalisierung und all der internationalen Zusammenarbeit» mit schwerwiegenden Auswirkungen für Länder auf der ganzen Welt zur Folge, wie die Direktorin des Chatham House, Bronwen Maddox, sagt. Chatham House, auch bekannt als The Royal Institute of International Affairs, ist ein unabhängiger Think-Tank in London.
Doch was sind die wichtigsten Veränderungen, die sich aus der russischen Invasion ergaben?
Die Staaten der Europäischen Union (EU) reagierten schnell mit umfangreichen Sanktionen und Massnahmen gegen Russland. Trotz einer gewissen Zersplitterung ist der Block entgegen den russischen Erwartungen und Hoffnungen im Wesentlichen zusammengeblieben. Die EU habe in ihrer Reaktion auf den Krieg Entschlossenheit und zuweilen überraschende Einigkeit gezeigt, findet man im Chatham House.
Während viele im Westen hofften, dass der Einmarsch Russlands die Nationen in den Entwicklungsländern hinter der auf Regeln basierenden Ordnung versammeln würde, hat Asien die westliche Darstellung des Konflikts als Kampf zwischen Macht und Recht weitgehend zurückgewiesen. Auch wenn sie Russland als zunehmend unangenehmen Partner empfinden, entscheiden sich die meisten asiatischen Länder aus einer Kombination von wirtschaftlichen, militärischen und diplomatischen Gründen pragmatisch für die Aufrechterhaltung der Beziehungen.
Der Wandel spiegelt sich auch in weiten Teilen Afrikas wider. Die Spezialisten bei Chatham House heben hervor, dass die meisten Stimmenthaltungen (51 Prozent) bei der Verurteilung der russischen Invasion in der UNO aus afrikanischen Ländern stammten, was ein teilweises Wiederaufleben der Standardposition vieler afrikanischer Länder während des Kalten Krieges darstelle. Für die britischen Experten ist klar: «Blockfreiheit ist viel angenehmer, als in eine westliche oder gar östliche Schublade gesteckt zu werden.»
Vor dem Einmarsch Russlands hatten es europäische Staaten wie Frankreich und Deutschland versäumt, sich auf die neuen geopolitischen Gegebenheiten in der Region einzustellen. Das Vorgehen Russlands wird zu einer dramatischen Neubewertung der europäischen Sicherheitslage führen.
Tatsächlich reagierten die europäischen Länder mit einer beträchtlichen Aufstockung ihrer Verteidigungshaushalte, allen voran Deutschland, das in der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz zur «Zeitenwende» zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts zusagte.
Jamie Shea, Associate Fellow im Chatham House International Security Programme, sagt dazu, dass diese grundsätzliche Entscheidung Deutschlands etwas sei, das «ich zu meinen Lebzeiten nicht erwartet hätte», und das zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Sicherheitspolitik mit der Aussenpolitik verbinde. Tatsächlich hat der Krieg Massnahmen beschleunigt, die vor dem Krieg «undenkbar» waren wie etwa die Beschleunigung des EU-Kandidatenstatus der Ukraine innerhalb von drei Monaten.
Der Einmarsch Russlands hat auch die Abschreckungsposition der NATO gestärkt und ihre Präsenz in Osteuropa erhöht. Putin hat das Kunststück fertiggebracht, die NATO enger zusammenrücken zu lassen als je zuvor. Finnland und Schweden, zwei Länder, die sich bis anhin vor einer NATO-Mitgliedschaft gedrückt hatten, um Russland nicht zu verärgern, werden dem Bündnis ebenfalls beitreten – eine historische Wende.
Auch aus dem Westen kamen Warnungen. So erklärte US-Präsident Joe Biden, das Risiko eines nuklearen Armageddons sei so hoch wie seit 60 Jahren nicht mehr, womit die Nuklearfrage wieder in den Vordergrund der Diskussion gerückt ist.
Die Drohungen sind zwar nicht neu, doch stellt sich die Frage, wie glaubwürdig sie sind und wie der Westen darauf reagiert. Sie müssten ernst genommen werden, ist man im Chatham Haus überzeugt. Gleichzeitig handle es sich dabei auch um eine «Panikmache», die darauf abziele, die russische Bevölkerung zu verunsichern und den Westen einzuschüchtern.
Laut Chatham House müssten aber auch die umfassende Einschüchterungsstrategie Russlands, insbesondere das Spiel mit der Sicherheit der Kernenergie in der Ukraine, wie etwa der Beschuss und die Angriffe rund um die Anlage in Saporischschja und die Befürchtung, dass eine schmutzige Bombe unter «falscher Flagge» gezündet werden könnte, ernstgenommen werden. Putin sei sich der Ängste, die dies auslöse, nur allzu bewusst. Denn in der Ukraine habe der schlimmste Atomunfalls der Welt – Tschernobyl im Jahr 1986 – stattgefunden.
Wenn es bei diesem Krieg wirklich um Putins «imperiales Vermächtnisprojekt» und den Versuch gehe, ukrainisches Gebiet wieder unter seine Kontrolle zu bringen, dann würde die Schaffung eines unbewohnbaren postnuklearen Ödlands «strategisch wenig Sinn» machen. So habe der Krieg auch dazu geführt, dass die NATO und die westlichen Verbündeten sich nicht mehr auf irgendwelche «Geplänkel» einliessen, die den Konflikt eskalieren könnten.
Die grundlegendste Veränderung war die Abkehr Europas von der Abhängigkeit von russischem Gas. Europa wird nie wieder in eine nennenswerte Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen zurückkehren. Selbst wenn der Krieg morgen zu Ende wäre, ist das Vertrauen zwischen den europäischen Verbrauchern und ihrem bisherigen Hauptlieferanten gebrochen.
Europa reagierte auf die Versorgungsunterbrechung auf zwei Arten: Es suchte sein Gas woanders und beschleunigte den Übergang zu erneuerbaren Energien. Vor 2022 hatte sich die EU verpflichtet, die Emissionen um 40 Prozent zu senken und 32 Prozent erneuerbare Energien zu erreichen. Durch den Krieg wurden diese Ziele auf 57 Prozent bzw. 45 Prozent angehoben. Wenn diese Ziele erreicht werden, würde der Energiesektor in der gesamten EU bis 2030/35 fast vollständig dekarbonisiert sein.
Antony Froggatt, stellvertretender Direktor des Chatham House Environment and Society Programme, sagt dazu: «Der Krieg hat die Dekarbonisierung wahrscheinlich um fünf bis zehn Jahre vorverlegt», obwohl ein enormer und beispielloser Ausbau der Offshore-Wind- und Solarkapazitäten sowie anderer Energiequellen erforderlich sein wird, um die Ziele zu erreichen.
Da sowohl Russland als auch die Ukraine wichtige Exporteure von landwirtschaftlichen Düngemitteln sind, trieb die Unterbrechung der weltweiten Lebensmittelketten die Preise auf ein Allzeithoch und verschärfte die Lebenshaltungskostenkrise sowohl in den Industrieländern als auch in den Entwicklungsländern.
Darüber hinaus drohten Ernteausfälle und eine russische Getreideblockade zu einer humanitären Katastrophe in den Entwicklungsländern zu führen, da viele Länder – wie etwa 85 Prozent der afrikanischen Staaten – von Weizenimporten abhängig sind. Nach Angaben des Welternährungsprogramms hat die Krise ein «noch nie dagewesenes Ausmass» erreicht, da zehnmal mehr Menschen von einer Hungersnot bedroht sind als noch vor fünf Jahren.
Die Stärke und das Ausmass der vom Westen verhängten «beispiellosen» Wirtschaftssanktionen hätten die Erwartungen Moskaus übertroffen und würden die Idee einer robusten Wirtschaft in der «Festung Russland» auf die Probe stellen. Die Realität sei, dass die Sanktionen Russland einen solchen Schlag versetzt hätten, dass dessen Handlungsspielraum für die Zukunft massiv eingeschränkt sei.
Eine der grössten Überraschungen des Krieges waren aber die militärischen Schwächen Russlands. Das Narrativ einer schnellen, zielgerichteten «militärischen Spezialoperation», die von einer schlagkräftigen Armee geführt werde, sei angesichts grosser Niederlagen, hoher Verluste, des Verlusts von Ausrüstung, des Mangels an Munition und militärischer Fehler zusammengebrochen.