Wieviel Schweiz steckt in «Suisse Garantie»?
Versorgungssicherheit statt Selbstversorgung bei den Nahrungsmitteln
Selbstversorgungsgrad ist der neue politische Kampfbegriff. Doch er hängt starkt von der Konsumgewohnheit von Herr und Frau Schweizer ab, sobald etwa mehr Salzwasserfische und Krustentiere statt konsumiert werden, sinkt er ganz einfach. (Foto: Shutterstock)
Die Sicherheit, jederzeit und in der ganzen Schweiz mit allen Gütern versorgt zu werden, ist nicht mehr selbstverständlich: fehlende Masken zu Beginn der Pandemie, weniger Sonnenblumenöl aus der Ukraine und ein Mangel an Computerchips – die Versorgungsengpässe nehmen zu. Viele glauben, die Versorgungssicherheit der Schweiz werde nur gestärkt, wenn das jeweilige Produkt innerhalb der Landesgrenzen hergestellt wird. Unterstützung findet die Idee auf beiden Seiten des politischen Spektrums: Die Linke ist skeptisch gegenüber der Globalisierung und wünscht sich im Ideal eine Kontrolle aller Produktionsprozesse, die Rechte betont vor allem die Unabhängigkeit gegenüber anderen Staaten.
Patriotismus auf dem Teller
Wohin eine forcierte inländische Produktion bei gleichzeitiger Abschottung gegenüber dem ausländischen Wettbewerb führt, zeigt sich exemplarisch an der Landwirtschaft: rekordhohe Subventionen und Preise für Lebensmittel im Inland. Handels- und Wettbewerbsbeschränkungen führen zu Wohlstandsverlusten – dies hat die Wirtschaftsgeschichte immer wieder gezeigt. Trotzdem neigt die Politik dazu, solche im Hinblick auf die Versorgungssicherheit der Bevölkerung in Kauf zu nehmen. In der Schweiz wird der Patriotismus besonders gerne auf dem Teller serviert. Dutzende von Labels hämmern den Konsumenten seit Jahren ein, dass Regionales besser sei – «da aus der Schweiz», so der sinnfreie TV-Werbespot für Schweizer Zucker vor einigen Jahren. Es ist bemerkenswert, dass sich noch kein Hilfswerk der Aufgabe angenommen hat, unseren Nachbarn mit Lieferungen guter Schweizer Lebensmittel zu Hilfe zu eilen, auf dass sie nicht mehr ihre eigenen, schlechten Nahrungsmittel verspeisen müssen.
Dabei ist es längst nicht mehr so, dass nur Schweiz drin ist, wo «Suisse Garantie» draufsteht. Viele Hilfsstoffe wie Futtermittel, Dünger, Pflanzenschutzmittel, Veterinärarzneien, Jungtiere – etwa Küken – und auch die Produktionsmittel wie Traktoren und der Treibstoff kommen aus dem Ausland. Die globalen Wertschöpfungsketten haben längst die Schweizer Agrarindustrie erfasst. Nun soll gemäss Bundesrat mit dem Schlagwort «Ernährungssicherheit» der Schweizer Anteil im Jahr 2050 weiterhin mehr als die Hälfte der konsumierten Lebensmittel ausmachen. Gerade Agrarkreise setzen die Ernährungssicherheit sehr oft mit der Selbstversorgung gleich.
Der Selbstversorgungsgrad bei Nahrungsmitteln betrug im Jahr 2019 57 %. Doch was bedeuten die Zahlen genau? Der Selbstversorgungsgrad ist definiert als das Verhältnis der Inlandproduktion zum inländischen Gesamtverbrauch. Langfristig hängt die Entwicklung der Kennzahl auch von den inländischen Essgewohnheiten ab. Steigt zum Beispiel der Konsum südländischer Früchte, oder werden mehr (importierte) Salzwasserfische und Krustentiere statt einheimischer Egli konsumiert, sinkt der Selbstversorgungsgrad. Er ist eine politisch oft verwendete, aber letztlich künstliche, statistische Grösse und ein Näherungswert.
Aufschlussreich ist ein Vergleich mit historischen Zahlen. Natürlich gibt es Vorbehalte in Bezug auf die Vergleichbarkeit mit den heutigen Erhebungsmethoden. Die Daten zeigen aber, dass sich die Schweiz in den letzten hundert Jahren nie selbst ernähren konnte und musste. Auch nicht während der beiden Weltkriege. Der berühmte Acker auf dem Zürcher Sechseläutenplatz ist eher in das Kapitel «geistige Landesverteidigung» einzuordnen, als dass damit ein substanzieller Beitrag an die Selbstversorgung geleistet worden wäre. Von 1939 bis 1945 stieg mit der «Anbauschlacht» der Inlandanteil am Gesamtverbrauch von 79% auf 81% – mit einem Höchststand von 86% im Jahr 1944. Selbst beim Brotgetreide betrug der Schweizer Anteil im letzten ganzen Kriegsjahr 1944 nur 78% und erreichte damit einen Höchststand. Dies bedeutet nichts anderes, als dass 22% des Getreides – auch während des Krieges – importiert werden konnten. Noch höher war der Zuckerimport mit 70% des Konsums. Gegenüber der Kriegswirtschaft 1944 hat sich heute der Selbstversorgungsgrad bei Zucker, Milch und den tierischen Fetten teilweise weiter markant erhöht und erreicht Stände von über 100% des Verbrauchs. Leicht gesunken ist der eigene Produktionsanteil bei den übrigen Lebensmitteln, teilweise auch als Ausdruck der veränderten Konsumgewohnheiten.
Nur Zugeständnisse bei Papayas und Ananas
Die historischen Daten lassen die Schlussfolgerung zu, dass für die Schweiz nicht ein möglichst hoher Grad an Selbstversorgung mit Lebensmitteln anzustreben ist, sondern eine hohe Versorgungssicherheit. Ein Instrument dazu ist der Bezug von Lebensmitteln aus möglichst vielen verschiedenen Quellen. Dazu gehört neben der eigenen Produktion vor allem auch der Agrarfreihandel mit möglichst vielen Ländern. Bisher machte die Schweiz im Agrarbereich nur Zugeständnisse, wenn es sich um Produkte handelte, die in der Schweiz nicht angebaut werden können, wie etwa bei tropischen Früchten. In einem nächsten Schritt sollte es deshalb darum gehen, auch mit Ländern wie den USA, Brasilien, Argentinien oder der EU Agrarfreihandel zu vereinbaren, die ähnliche Produkte wie die Schweiz herstellen.
Diversifizierte und gut eingespielte Lieferketten sind der bessere Schutz vor Engpässen als Abschottung und Schutz der eigenen Agrarindustrie. Dies fordert heraus und ist für viele inländische Akteure unbequem, die es sich hinter dem Grenzschutz bequem eingerichtet haben. Es sollte nicht vergessen werden, dass mehr Offenheit und Wettbewerb nicht nur Kernelemente der Versorgungssicherheit sind, sondern auch eine wichtige Grundlage für den Wohlstand der Schweiz.
Patrick Dümmler ist Senior Fellow und Forschungsleiter Offene Schweiz bei Avenir Suisse, wo dieser Artikel auch schon einmal erschienen ist.