Wie Corona-Gräben in Politik und Gesellschaft überwunden werden können
Internationale Studie kommt zum Schluss, dass in polarisierten Ländern der Wissenschaft eine besondere Rolle zukommt. Was das für die Schweiz bedeutet.
Politische Polarisierung behindert die öffentliche Unterstützung für Massnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung von COVID-19. Zudem erschwert sie die Bewältigung anderer gesellschaftlicher Herausforderungen. Das ist ein Fazit, das man nach zwei Jahren Pandemie ohne weiteres ziehen kann. Eine neue länderübergreifende internationale Studie von Wissenschaftlern aus Europa, Asien und den USA zeigt, dass die Argumentationslinien der politischen Eliten und die emotionale Polarisierung in allen Ländern ähnlich sind. Überraschend: Die USA sind weit davon entfernt, ein Ausreisser zu sein, auch andere Länder, auch die Schweiz, stehen vor ähnlichen Polarisierungsherausforderungen. Wichtig erscheint, dass die Ergebnisse der Studie klar darauf hindeuten, dass Massnahmen zur Bekämpfung von Krisen im Bereich der öffentlichen Gesundheit mehr Unterstützung finden, wenn sie von überparteilichen Experten und überparteilichen Koalitionen vorgeschlagen werden.
Konkrete Massnahmen gegen COVID-19 und ihre Wahrnehmung verglichen
Politische Polarisierung behinderte die öffentliche Unterstützung für Massnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung von COVID-19: Das ist in der Schweiz so, aber auch in Österreich, Deutschland, Italien oder den USA. Im Gegensatz zu früheren Theorien und Forschungen, untersuchte die neue Studie die Auswirkungen politischer Informationen durch die politische Elite und emotionale Polarisierung gleich in mehreren Ländern. Dazu griffen die Wissenschaftler auf die konkreten Massnahmen zu Bekämpfung der COVID-19-Pandemie in sieben Ländern und deren Wahrnehmung beziehungsweise Unterstützung in der Öffentlichkeit zurück. Untersucht wurde die Situation in Brasilien, Israel, Italien, Südkorea, Schweden, im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten.
In allen Ländern veränderten die Informationen, Argumente und Hinweise der politischen Eliten die Einstellung der Öffentlichkeit zu COVID-19-Massnahmen. Liberale und konservative Befragte unterstützten politische Massnahmen stärker, die von Politikern und Parteien ihrer eigenen Gruppe vorgeschlagen wurden, als gleiche Massnahmen von Politikern und Parteien der Gegenparteien. Die Befragten mochten das Personal ihrer politischen Kontrahenten nicht, misstrauten ihnen und empfanden sie als kalt. Gleichzeitig zeigten Befragungen, dass sie die politischen Eliten ihrer eigenen politischen Überzeugung und die überparteilichen Experten mochten, ihnen vertrauten und sich von ihnen emotional angesprochen fühlten. Diese emotionale Polarisierung korrelierte zudem mit der Unterstützung der Politik.
Experten und überparteiliche Koalitionen wirken gegen die Polarisierung
Die Studienergebnisse deuten darauf hin, dass politische Massnahmen von überparteilichen Koalitionen und überparteilichen Experten weniger polarisierend sind und eine breitere öffentliche Unterstützung erhalten. Tatsächlich fanden politische Massnahmen von parteiübergreifenden Koalitionen und Experten in allen Ländern eine grössere Unterstützung.
Ein Folgeexperiment bestätigte diese Ergebnisse dann auch bei US-Befragten, die über die internationale Verteilung von Impfstoffen nachdenken sollten. Die polarisierende Wirkung parteipolitischer Eliten und emotionaler Polarisierung zeigte sich in allen Ländern – ohne Differenz bezüglich Kultur, Ideologie oder politischer Systeme. Spannend: Im Gegensatz zu anderen Darstellungen fanden die Forscher keine Anzeichen dafür, dass die Vereinigten Staaten aussergewöhnlich polarisiert wären. Vielmehr deuten die Forschungsergebnisse darauf hin, dass polarisierende Prozesse einfach durch die Differenzierung in politische Freund- und Gegnergruppen entstanden sind, denen sich die Bürgerinnen und Bürger dann zugehörig fühlen. Politische Eliten treiben diese Polarisierung jedoch weltweit voran.
Die Studienautoren konnten tatsächlich zeigen, dass Hinweise von parteiunabhängigen Experten und parteiübergreifenden Koalitionen weniger polarisierend sind. Menschen vertrauen Experten mehr als Politikern, vor allem mehr als Politikern der gegnerischen Seite. Experten sind im Allgemeinen überzeugender als Nichtexperten, zum Teil deshalb, weil Fachwissen die wahrgenommene Glaubwürdigkeit der Quelle erhöht. Obwohl Konservative etwas weniger Vertrauen in Experten haben und ihnen skeptischer gegenüberstehen als Liberale, haben die Menschen weltweit ein hohes Vertrauen, wonach unparteiische wissenschaftliche Experten im besten Interesse der Öffentlichkeit handeln. COVID-19-Massnahmen, die von Experten vorgeschlagen wurden, erfuhren daher stärkere Unterstützung als diejenigen, die von liberalen oder konservativen Politikern vorgeschlagen wurden.
Überparteilich unterstützte Massnahmen geniessen mehr Vertrauen
In ähnlicher Weise konnten die Forscherinnen und Forscher zeigen, dass COVID-19-Massnahmen von überparteilichen Koalitionen liberaler und konservativer Eliten stärker unterstützt werden als Massnahmen, die nur von liberalen oder konservativen Politikern vorgeschlagen werden. Menschen schätzen gewöhnlich politische Zusammenarbeit und reagieren darauf, ob Vorschläge von vertrauenswürdigen politischen Eliten unterstützt werden. Frühere Forschungen deuten darauf hin, dass die Menschen stärker von den Positionen ihrer Kollegen aus der eigenen Gruppe beeinflusst werden als von denen gegnerischer Gruppen. Dennoch bleibt es unwahrscheinlich, dass die blosse Anwesenheit von gegnerischen Politikern die Unterstützung für überparteiliche Politik vollständig dämpft. Insgesamt fand die Studie Hinweise dafür, dass überparteiliche Politik in ähnlicher Weise unterstützt wird wie Politik der eigenen politischen Gruppe.
Für diese Deutung sprechen auch die Abstimmungen zum COVID-19-Gesetz in der Schweiz: Immerhin mussten Bundesrat und Parlament das Gesetz, das die Grundlage für die Pandemiebekämpfung legt, gleich zweimal in einem Referendum verteidigen. Bekämpft wurde es von allen Bundesratsparteien im zweiten Urnengang vom 28. November 2021 nur von der SVP. Dieselbe Partei hatte beim ersten Referendum, über das am 13. Juni 2021 abgestimmt worden war, als einzige Bundesratspartei eine Stimmfreigabe beschlossen. Somit kann man bei beiden Vorlagen von einer «Überparteilichkeit» gemäss Studie ausgehen. Die grosse Zustimmung, im Juni 2021 von 60 Prozent, im November 2021 von 62 Prozent, deutet stark daraufhin, dass die Überparteilichkeit auch in der Schweiz zum Erfolg beigetragen hat. Dazu traten ja auch Wissenschaftler für die Massnahmen und das Gesetz im Abstimmungskampf jeweils ein.