Wie sich die Digitalisierung auf die Schweizer Demokratie auswirkt

Die sozialen Medien spielen für die politische Informationsbeschaffung keine zentrale Rolle. Laut einer neuen Studie haben Stimmberechtigte eine pragmatische Haltung gegenüber Desinformation, wollen lediglich ausländische Beeinflussungsversuche und personalisierte politische Werbung einschränken.

Es ist eines der grossen Themen, welches die Demokratien beschäftigt: Wie beeinflussen die Digitalisierung und die sozialen Medien die Informationsbeschaffung und die Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger eines Staates? Die digitalen Wahlkämpfe in den USA und Grossbritannien, Skandal um Facebook und die Datenfirma Cambridge Analytica oder die Beeinflussung nationaler Wahlen durch ausländische Mächte haben neue Fragen rund um demokratische Prozesse aufgeworfen. Wie beeinflussen neue Technologien Meinungen und Überzeugungen?

Die Stiftung TA-SWISS hat in einem interdisziplinär ausgerichteten Projekt unter der Verantwortung der sechs Forscher Urs Bieri, Edward Weber, Nadja Braun Binder, Sébastien Salerno, Tobias Keller und Manuela Kälin untersucht, wie sich die politischen Abläufe durch die Digitalisierung verändern, was dies für unsere Demokratie bedeutet und welche Chancen und Risiken sich dabei ergeben. Im Folgenden werden drei Erkenntnisse der umfangreichen und ebenso lesenswerten wie höchst inspirierenden Studie zusammengefasst, die hier heruntergeladen werden kann. Ein Muss für alle politisch interessierten und engagierten Personen, denen die Demokratie und deren Prozesse am Herzen liegen.

  1. Politische Informationen über soziale Medien unbedeutend

Eine klare Mehrheit der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger konsultiert die sozialen Medien im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen nicht zur Meinungsbildung. Die traditionellen Medien wie Fernsehen, Radio und Zeitungen haben als Informationsquelle die Nase immer noch deutlich vorn. Für die sechs Forscher relativiert dieser Aspekt das Ausmass der Effekte der Digitalisierung auf die politische Meinungsbildung.

Zudem tragen generell neue politische Informationen, unabhängig vom jeweiligen Medientyp, nicht direkt zur Meinungsbildung bei, sondern verstärken tendenziell die bereits bestehende politische Grundeinstellung und das thematische Vorwissen der jeweiligen Person. Eine Rolle spielen dabei der individuelle Wissensstand zum Thema und die persönliche Fähigkeit, die neue politische Information mit diesem Vorwissen zu verknüpfen.

Die Forscher weisen auf einen weiteren Aspekt hin, der unabhängig von der Digitalisierung der Demokratie existiert und sich lediglich in deren Ausprägungen widerspiegelt: die Polarisierung der Schweizer Politik und das Phänomen des Populismus. Diese haben ihren Ursprung unabhängig von der Digitalisierung. Allerdings haben die sozialen Medien zumindest das Potenzial, solche für die Schweizer Konsensdemokratie kritischen Phänomene zu verstärken.

  1. Neue Plattformen und Bewegungen wie «Operation Libero» und «Klimajugend»

Trotz dieser «relativierenden» Aspekte ist aus medienwissenschaftlicher Sicht das Veränderungspotenzial der Digitalisierung unbestritten. Die USA beispielsweise zeigen, wie die Digitalisierung die Demokratie bereits durchdrungen hat und welch grossen Stellenwert sie bei der Meinungsbildung einnehmen kann. So hat sich mit dem Aufkommen der grossen sozialen Netzwerke das Kommunikationsverhalten der politischen Akteurinnen und Akteure massiv verändert. Dies reicht zur Entstehung neuer Parteien und sozialer Bewegungen, welche in ihrer Philosophie eng mit den Social-Media-Plattformen verknüpft sind.

Die Forscher weisen auf das Movimento «5 Stelle» in Italien sowie die Operation Libero oder die Klimajugend in der Schweiz hin. Diese politischen Organisationen nutzen Online-Plattformen für ihre interne und externe Kommunikation sowie für ihre Organisation (unter anderem Verwaltung, Mitgliederbeteiligung und Abstimmungen). Ihre Hoffnung sei, dass dank der Digitalisierung der Demokratie eine direktere und transparentere Politik möglich werde, welche die politischen Entscheidungsträger dem Volk näherbringe. Damit würde nicht nur die Kommunikation der politischen Akteurinnen und Akteure, sondern auch die Interaktion zwischen politischer Elite und Bevölkerung verändert.

Die Bürgerinnen und Bürger haben nun einen schnelleren, umfassenderen und weniger von journalistischen Gatekeepern selektionierten Informationszugang als noch vor zwanzig Jahren. Deswegen sind koordinierte Aktionen nun deutlich einfacher, was sich beispielsweise in den politischen Aktionen der Bewegungen «Black Lives Matter», «Me Too» und «Time’s Up» zeigt.

  1. Pragmatischer Umgang mit Desinformation und «Fake News»

Die wohl grösste Herausforderung stellt der Umgang mit Desinformation («Fake News») dar. Zentral dabei ist: Die Bürgerinnen und Bürger werden vom Gesetzgeber als befähigt erachtet, eine Breite und Fülle von Informationen mit differierender Ambition und unterschiedlichem Wahrheitsgehalt zu verarbeiten und sich daraus eine eigene Meinung zu bilden. Diese Sichtweise wird von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Fokusgruppen der Studie grundsätzlich geteilt. Sie fühlen sich in der Lage, innerhalb digitaler Informationen und Diskussionen gewinnbringend zu navigieren.

Allerdings betrachten sie Social Media keineswegs mit Naivität: Im Gegensatz zu den traditionellen Medien werden die sozialen Medien nicht als verlässliche Informationsquelle für die politische Meinungsbildung betrachtet. Gleichzeitig sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fokusgruppe aber überaus kritisch gegenüber jeder Art von Einschränkungen der persönlichen Meinungsäusserungsfreiheit auf Social Media. Sie plädieren für die Meinungsfreiheit und lehnen gesetzliche Regulierung aber. Dafür plädieren sie für Massnahmen zur Verbesserung der Fähigkeiten im Umgang mit sozialen Medien.

Aber es werden gesetzliche Massnahmen zum Schutz vor Beeinflussungsversuchen durch ausländische Akteurinnen und Akteure auf die politischen Online-Debatten sowie für die Einschränkung personalisierter politischer Werbung ausDiesbezüglich wünscht sich eine Mehrheit entweder ein generelles Verbot oder zumindest eine stärkere Einschränkung als bisher.

Positiver Blick in die Zukunft

Beim Blick in die Zukunft des Einflusses der Digitalisierung auf die Meinungsbildung in der Schweiz waren die an den Fokusgruppen Teilnehmenden insgesamt etwas optimistischer als bei der Evaluierung der Gegenwart: Ein Teil von ihnen geht sogar davon aus, dass die bestehenden Probleme manipulierter Meinungsbildung bei Social Media (über Fake News und personalisierte politische Werbung) in Zukunft kein zentrales Problem mehr sein würden, da das Stimmvolk bis dann eine höhere Resistenz gegenüber solchen Bestrebungen entwickelt haben werde.

Urs Bieri, Edward Weber, Nadja Braun Binder, Sébastien Salerno, Tobias Keller, Manuela Kälin: «Digitalisierung der Schweizer Demokratie – Technologische Revolution trifft auf traditionelles Meinungsbildungssystem», TA-SWISS Publikationsreihe, Zürich 2021.

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