«Wir sind längst bereit für den Bundesrat»

Grünen-Generalsekretär Florian Irminger erklärt, warum die Grünen einen Bundesratssitz beanspruchen – und warum ihm sein Job viel Spass macht.

Die Grünen seien bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Schliesslich habe die Partei schon sieben kantonale Regierungsmitglieder und sei auch in vielen Gemeinden und Städten in der Regierung vertreten, sagt Florian Irminger, Generalsekretär der Partei. (Foto: zgv)

Florian Irminger, was ist für Sie Macht*?

Florian Irminger: Heute geht es nicht mehr einfach darum, zu regieren und im traditionellen Sinn an die Macht zu kommen. Sondern darum, wie wir die Gesellschaft und unser Zusammenleben angesichts der Klimakrise neu gestalten. In der Lage zu sein, das zu tun: Das ist für mich Macht.

Macht als Reaktion auf die Klimakrise?

Irminger: Wir belasten die künftigen Generationen mit einer Welt, die um ein paar Grad wärmer sein wird als die heutige. Das wird Konsequenzen haben. Um diese bewältigen zu können, müssen wir die Politik verändern. Ob wir es nun wollen oder nicht: Die Klimakrise wird definieren, wie wir in den nächsten 50 bis 100 Jahren Macht ausüben werden.

War das der Grund, warum Sie um die Jahrtausendwende die Jungen Grünen mitbegründen halfen?

Irminger: Unser Antrieb war das Gefühl, dass die früheren Generationen uns die Umwelt in einem unglaublich schwierigen Zustand übergeben. Wir wollten dafür sorgen, dass junge Menschen mitgestalten können. Ich weiss: Es klingt ähnlich wie bei der Greta-Generation – und so anders war es auch gar nicht!

Wie wichtig ist ein Bundesratssitz für Ihre Partei?

Irminger: Es ist nicht wichtig für die Partei, sondern für die Schweiz als Land, in welchem der Klimaschutz nach dem Nein zum CO2-Gesetz praktisch blockiert ist. Wir sind bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen, und tun das in den Kantonen auch bereits, wo wir inzwischen sieben Regierungsmitglieder stellen. Auch in vielen Gemeinden und Städten sind wir in der Regierung vertreten. Die Grünen sind europaweit auf Erfolgskurs und die zweite grüne Generation kommt in die Regierungen – in Österreich mit den Bürgerlichen oder in Frankreich mit den Sozialdemokraten.

Höchste Zeit also für einen grünen Bundesrat?

Irminger: Wir wollen die Anliegen der Bevölkerung vertreten und einen gangbaren und mehrheitsfähigen Weg für die Klimapolitik aufzeigen. Das fehlt uns in der Schweiz, das haben wir beim CO2-Gesetz gesehen. Die Umfragen nach der Abstimmung haben gezeigt, dass sich die Bevölkerung sehr wohl mehr Klimaschutz wünscht, aber mit dem Weg nicht einverstanden war. Genau das ist unser Job: Wir zeigen einen neuen Weg auf.

Der letzte grüne Angriff auf einen Bundesratssitz kam nach dem grossen Wahlsieg 2019 spät und war ohne Chancen. Bereiten Sie die Kandidatur für 2023 jetzt schon vor?

Irminger: Wir haben in diesem Land eine Klimakrise und eine Biodiversitätskrise. Wir sorgen dafür, dass diese Themen im Fokus bleiben. Wenn wir unsere Arbeit richtig machen, bestätigt die Bevölkerung ihren Wahlentscheid von 2019. Wir sind längst bereit, in den Bundesrat zu gehen und würden eine bessere Arbeit machen, als es zum Beispiel Ueli Maurer heute tut.

2019 haben die Grünen enorm zugelegt. Was heisst es für die Bundesratsambitionen, wenn Sie wieder etwas verlieren?

Irminger: Seit Oktober 2019 haben wir sämtliche kantonalen Wahlen gewonnen. In den kommunalen Wahlen haben wir unsere Repräsentation in der Waadt, in Freiburg und Bern mehr als verdoppelt. Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass der Aufschwung der grünen Bewegung nachlässt. Wir haben stärker zugelegt als die Grünliberalen. Die Frage lautet aber, wie die Konstellation nach den Wahlen 2023 aussehen wird. Bei den letzten Wahlen war es ein historischer Sieg: Seit Einführung des Proporzwahlsystems vor über 100 Jahren hatte keine Partei so stark zugelegt wie 2019 die Grünen. Dass wir das nicht wiederholen können, ist uns bewusst.

Womit rechnen Sie?

Irminger: Die Frage ist, ob sich das System stabilisiert. Ob es ein, zwei Sitze mehr oder weniger sind, ist eigentlich egal. Die viertgrösste Partei im Land hat Anspruch auf einen Sitz im Bundesrat. Das würde bedeuten, dass die Bevölkerung die Grünen in der Regierung sehen will. Darum geht es eigentlich.

Warum spannen Sie nicht mit den Grünliberalen zusammen für einen Klimasitz in der Regierung?

Irminger: Die Grünliberalen stehen nicht so konsequent für grüne Anliegen ein wie wir. Im Nationalrat haben sie kürzlich nicht einmal die Besteuerung von Flugtickets mitgetragen. Es wäre viel einfacher, Mehrheiten in Klimafragen zu finden, wenn die Grünliberalen mit uns an einem Strick ziehen würden. In allen Kantonen, Gemeinden und Städten bilden die Grünen Allianzen mit der SP. Das funktioniert gut.

Sind Sie als Generalsekretär der Grünen mächtiger als Ihre Kollegin und Ihr Kollege, die sich den Generalsekretären-Job der Grünliberalen teilen?

Irminger: Als Generalsekretär beurteilt man Macht auch danach, ob man die Menschen von den Anliegen der Grünen überzeugen kann. Das zeigt sich zum Beispiel in der Anzahl Mitglieder und in den gesammelten Unterschriften für Initiativen und Referenden. Wir können uns an Referenden beteiligen, wir können Initiativen lancieren, wir haben 13’000 Mitglieder: So betrachtet fühle ich mich etwas mächtiger als das Duo, das die Grünliberalen führt. Aber was die traditionelle Macht von Personen und Positionen betrifft, so haben sie sehr viel Einfluss – vermutlich ähnlich viel wie ich.

Sie haben sich jahrelang in Menschenrechtsorganisationen engagiert. Wo orten Sie den grösseren Einfluss – auf dem internationalen Parkett oder in einem nationalen Parteisekretariat?

Irminger: In einer NGO ist man auf der politischen Agenda eher reaktiv. Als Generalsekretär einer Partei kann man sehr aktiv und sehr weit im Voraus Einfluss auf die politische Agenda nehmen. Ich weiss ungefähr, was in sechs Monaten passieren wird. Als NGO-Vertreter weiss ich nicht, was die Partei in sechs Monaten bringen wird. Das ist ein riesiger Unterschied.

Generalsekretär einer Partei zu sein, ist ein Rund-um-die-Uhr-Job, sagen Ihre Kolleginnen und Kollegen. Erleben Sie das auch so?

Irminger: Ja, aber es ist auch nicht anders, eine internationale Menschenrechtsorganisation zu leiten. Man arbeitet viel, doch es macht Spass. Es ist spannende Arbeit. Man sollte nicht unterschätzen, dass man sehr viel lernt und sich weiterentwickelt. Man findet viel mehr Befriedung in der Arbeit als anderswo.

Was macht Ihnen am meisten Spass?

Irminger: Bei den Grünen haben wir erstens das Glück, ein cooles, motiviertes Team zu haben. Ich stehe am Morgen auf und weiss, mit Leuten arbeiten zu können, die genauso viel Lust darauf haben wie ich. Das ist ein unglaubliches Glück. Zweitens arbeite ich mit einer politischen Partei, die jung und vielfältig ist. Das bringt sehr viel Energie, die motiviert. Und drittens arbeite ich mit Themen, die mir am Herzen liegen.

Was bereitet Ihnen am meisten Mühe?

Irminger: Da die Partei stark gewachsen ist und sich sozusagen von einem Familienbetrieb zu einem KMU entwickelt hat, besteht im Präsidium die Tendenz, ins Operative einzugreifen.

Heisst das, Parteipräsident Balthasar Glättli mischt sich zu sehr ins Tagesgeschäft ein?

Irminger: Nein, ich habe absichtlich Präsidium gesagt. Das umfasst neben dem Präsidenten auch die Vizepräsidentinnen und Vizepräsidenten. Balthasar Glättli schaut eher weit voraus und zeichnet ein Bild der Gesellschaft, die die Grünen gestalten wollen. Er denkt an 2040 genauso wie an 2023.

Wie lang sind Ihre Arbeitstage?

Irminger: Gegenfrage: Wenn ich die Biografie des grünen deutschen Politikers Robert Habeck lese, ist das Arbeit oder nicht? Oder wenn ich am Sonntag die Zeitungen lese? Als Generalsekretär gerät man in eine Rolle, in der man die Stunden nicht mehr zählt und sein Leben so gestaltet, dass es dem Job entspricht. Wobei es aufzupassen gilt.

Worauf?

Irminger: In der Schweiz haben wir als Grüne im Vergleich zu den anderen grossen Parteien eine Schwäche: Wir haben viel weniger Ressourcen als sie. Das kann dazu führen, dass wir unsere Leute dazu antreiben, zu viel zu arbeiten. Da passe ich sehr auf, damit Leute, die ein Familienleben haben, und nicht Generalsekretär sind, sondern auf dem Generalsekretariat arbeiten, ihr Leben so einrichten können, dass sie zwar arbeiten, aber nicht permanent den Druck spüren, Überstunden zu leisten. Für mich als Generalsekretär gibt es aber nichts, was Überstunden heisst.

Wie sieht ein typischer Arbeitstag aus?

Irminger: Den gibt es nicht, die Tage sind extrem vielfältig. Das ist es, was Menschen wie mir Spass macht: am Morgen aufzustehen und nicht zu wissen, was im Lauf des Tages alles passieren wird.

Wer darf Ihnen privat widersprechen?

Irminger: Meine Frau und meine Katze. Wobei die Katze macht, was sie will, während die Verhandlungsmöglichkeiten mit meiner Frau etwas grösser sind.

Wo finden Sie den Ausgleich und Erholung?

Irminger: Ich habe schon mein ganzes Leben lang gesegelt und tue das bis heute regelmässig. Ein Segeltag ist ein Segeltag und mir sozusagen heilig. Dann weiss unsere stellvertretende Generalsekretärin, dass ich auf dem Boot bin. Das passiert an etwa zehn Tagen im Jahr.

Florian Irminger (38) gründete vor seinem Studium der internationalen Beziehungen in Genf die Präventionsgruppe «Stop Suicide» und war Gründungsmitglied der Jungen Grünen. Ins Berufsleben stieg er als NGO-Vertreter für Menschenrechte bei der UNO, beim Europarat und bei der EU ein. Bevor er vor einem Jahr das Generalsekretariat der Grünen Schweiz übernahm, hatte er die Menschenrechtsorganisation Penal Reform International geleitet, die sich im Bereich der Strafjustiz engagiert. Irminger wohnt in Genf und in Bern.

*In der Schaltzentrale der Macht
Sie sitzen auf entscheidenden Positionen, aber selten im Rampenlicht: Generalsekretäre von Parteien oder eidgenössischen Departementen, Geschäftsführerinnen von Verbänden oder Direktoren von Nichtregierungsorganisationen. Braucht die Schweiz politische Lösungen, helfen sie diese zu entwickeln. In regelmässigen Abständen wollen wir im Gespräch die Schaltzentralen der Macht ausleuchten.

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