Nach der Wahl von US-Präsident Donald Trump hiess es, die Echokammern auf Social Media hätten die Gesellschaft polarisiert. Ein US-Professor sah das auch so, bevor er herausfand, dass die These nie wissenschaftlich überprüft worden war. (Foto: Shutterstock)

Als er 11 Jahre alt war, zog die Familie von Chris Bail aus einer beschaulichen Suburb von Boston in die heutige Demokratische Republik Kongo. Damals wurde ein fragiler Frieden im afrikanischen Land regelmässig von drei sich bekämpfenden militärischen Fraktionen gestört.

Die rund 18 Monate, die er dort lebte – während sein Vater als Arzt für die WHO arbeitete – prägten Bail nach eigenen Angaben für immer: Er sah, wie seine Mutter fast starb, als auf einem Markt ein Messer in ihre Nähe geworfen wurde, und wie sein Vater inhaftiert wurde, als er sich weigerte, ein Bestechungsgeld zu zahlen.

Bails Erinnerungen haben seinen wissenschaftlichen Weg geprägt. Er ist Professor an der US-amerikanischen Duke University, und sein Ziel ist es zu erklären, warum sich Menschen, die sich so ähnlich sind, oft so sehr hassen. In seinem neuen Buch «Breaking the Social Media Prism» taucht er in die politische Polarisierung und ihre Erscheinungsformen auf Social-Media-Plattformen wie Twitter und Facebook ein.

Auf der Grundlage von Forschungsarbeiten, die er und andere am Duke Polarization Lab durchgeführt haben, untersucht Bail, warum es so unwahrscheinlich ist, dass sich politische Parteigänger von anderen Standpunkten beeinflussen lassen. Spannend ist sein Ansatz deshalb, weil er die Verantwortung für die Polarisierung nicht nur allein bei der Technologie und ihren Promotoren sieht, sondern auch bei jedem einzelnen von uns.

Konfrontation mit gegenteiligen Meinungen nützte nichts

So erklärte er kürzlich in einem Beitrag seiner Universität in North Carolina, dass zwar viele Menschen argumentierten, dass die sozialen Medien uns von Menschen mit gegenteiligen Ansichten isolierten, indem sie uns erlauben, uns mit Menschen zu verbinden, die bereits unsere Ansichten teilen, und diejenigen auszublenden, die das nicht tun. Und: Wenn man die Menschen aus ihrer «Echokammer» herausnehme, so die Logik, würden wir automatisch wieder moderater. Auch wenn Bail im Nachgang zur Wahl von Donald Trump diese Ansicht teilte, stellte er bald fest, dass niemand sie wirklich gründlich untersucht hatte.

Bail wollte es genauer wissen und startete mit einem Team von Wissenschaftern aus verschiedenen Disziplinen eine Studie, bei der Republikaner und Demokraten dafür bezahlt wurden, Twitter-Bots zu folgen, die sie einen Monat lang mit gegenteiligen Ansichten konfrontierten. Bail: «Als wir Umfragen mit diesen Personen über ihre politischen Ansichten verglichen, die vor und nach unserer Intervention durchgeführt wurden, stellten wir leider fest, dass niemand gemässigter wurde.» Tatsächlich zeigten die Republikaner wesentlich mehr konservative Ansichten und die Demokraten etwas mehr liberale Ansichten.

Das Experiment ging also in die falsche Richtung. Doch warum? Bail suchte nach Antworten. Für ihn ist heute klar: «Wir haben über die Beziehung zwischen sozialen Medien und politischer Polarisierung auf die falsche Weise nachgedacht. Wir neigen dazu, uns die Nutzer sozialer Medien als überwiegend rationale Akteure vorzustellen, die auf Informationen stossen, diese hinterfragen und dann ihre Ansichten entsprechend anpassen.» Aber wie jeder wisse, der viel Zeit in den sozialen Medien verbracht habe, sei dies nicht das, was die meisten Menschen in den sozialen Medien täten. Bail: «Stattdessen denke ich, dass Menschen soziale Medien nutzen, um einen unserer grundlegendsten menschlichen Instinkte auszuleben: Eine Identität zu entwickeln, die uns ein Gefühl für unseren Selbstwert gibt.»

Für den Soziologen und Datenwissenschafter steht darum fest: «Wenn wir soziale Medien als eine Art Motor für die Schaffung unserer Identitäten betrachten – der uns neue Werkzeuge zur Verfügung stellt, um uns selbst auszudrücken und zu beobachten, wie andere Menschen auf uns reagieren –, dann macht es Sinn, dass die Begegnung mit Menschen, die unsere Ansichten nicht teilen, in der Regel nicht zu Selbstbeobachtung und Mässigung führt.» Stattdessen würden die meisten Menschen die Begegnung mit gegenteiligen Ansichten als einen Angriff auf ihre Identität erleben – oder auf ihr allgemeines Verständnis davon, wie die Welt funktioniert.

Wenn der Mensch die Schuld trägt, macht das das Problem schwieriger

Obwohl Social-Media-Plattformen sicherlich eine Mitschuld am aktuellen Zustand der politischen Spaltung in den USA trügen, sei er, Bail, zu der Überzeugung gelangt, dass diese in erster Linie durch das Verhalten der Nutzer angetrieben werde. Social Media sei somit nicht die Ursache für das politische Unwohlsein, sondern eher ein Vehikel, das viele Menschen benutzten, um «sich» von «denen» abzugrenzen.

Mit anderen Worten: Will man etwas an der Polarisierung über Social Media ändern, so bleibt einem nur, den Leute beizubringen, dass ihr Verhalten das Problem ist und nicht die digitale Umgebung, in der sie sich ausleben. Ist das nicht viel schwieriger, als nur die Technologie verantwortlich zu machen?

Für Bail ist klar: «Natürlich will niemand hören, dass er die Ursache für das Problem ist – schliesslich ist immer die andere Partei schuld, oder?» Das Problem sei, dass Menschen auf beiden Seiten so empfinden würden. «Wenn die sozialen Medien einige unserer dunkleren Instinkte fördern, um unser eigenes Selbstwertgefühl auf Kosten von andern zu verbessern, dann kann es doppelt schwierig erscheinen, diesem allzu menschlichen Instinkt entgegenzuwirken.» Er glaube aber, die Menschen fühlten sich auch hilflos. Deshalb ist Bail in seinem «Polarization Lab» daran, neue Technologien zu entwickeln, die uns allen dabei helfen sollen, uns bewusst zu machen, wie stark unsere Gewohnheiten die Polarisierung vorantreiben. Und er will neue Apps und Bots zur Verfügung stellen, die uns helfen, den Kurs zu korrigieren.

Tools, die einem auch moderate Stimmen zeigen

Einige dieser Tools sollen Trolle identifizieren – oder Menschen, die sich daran erfreuen, politische Gegner in den sozialen Medien fertig zu machen. Andere sollen bei der Selbstreflexion helfen. Bail sagt, dass vor allem der Mangel an moderaten Stimmen in den sozialen Medien ein Problem darstelle. Denn das Fehlen gemässigter Meinungen kann die Extremisten wie «normale» Mitglieder der anderen Seite erscheinen lassen – ein Phänomen, das oft auch als «falsche Polarisierung» bezeichnet wird. Darum will Bail Tools bereitstellen, die den Nutzern sozialer Medien helfen, Leute zu identifizieren, mit denen sie produktivere Gespräche führen können. So hat Bail beispielsweise ein sogenanntes «Bipartisanship-Leaderboard» entwickelt, das prominente Persönlichkeiten beider politischer Lager auflistet, deren Tweets bei Menschen auf beiden Seiten auf Resonanz stossen.

Die Social-Media-Plattformen haben die langsame Entwicklung von etwas überflüssigen Zeitfressern zu tödlich ernsten Überbringern von Fake News hinter sich. Stellt sich die Frage, ob eine solch substanzielle Transformation überhaupt noch in eine positive Richtung gelenkt werden kann. Bail sieht darin auch die «Millionen-Dollar-Frage»: «Warum sollten wir davon ausgehen, dass Plattformen, die für banale Zwecke wie zur Bewertung der Attraktivität von College-Studenten geschaffen wurden, als ideales Forum für den demokratischen Diskurs dienen können?» Man müsse den Plattformen immerhin zugutehalten, dass sie in den letzten Jahren viel Aufwand betrieben hätten, sich umzuorientieren – nachdem sie sehr lange Zeit das Schadenspotenzial der sozialen Medien ignoriert hätten. «Aber wenn die Polarisierung in erster Linie durch menschliche Instinkte angetrieben wird, kann man ohne eine grundlegende Reorganisation der sozialen Medien nur sehr wenig tun.» Für Bail ist darum klar: «Wir brauchen Forschung, die untersucht, wie das Design und die Infrastruktur von Social-Media-Plattformen den sozialen Zusammenhalt prägen.» Was wäre, wenn Nutzer in sozialen Medien schon nur ein höheres Ranking erlangen würden, weil sie Menschen auf beiden Seiten des politischen Spektrums erreichen, statt Follower für Verunglimpfungen von Menschen auf der anderen Seite zu gewinnen?

Zur Person:

Chris Bail ist Professor für Soziologie, Public Policy und Data Science an der Duke University, wo er das Polarization Lab leitet. Bail ist führend in computergestützten Sozialwissenschaften und untersucht grundlegende Fragen der Sozialpsychologie. Etwa im Bereich des Extremismus und der politischen Polarisierung, die er mithilfe von Social-Media-Daten, Bots und den neuesten Anwendungen des maschinellen Lernens untersucht.

Was Manager von Schülern unterscheidet

Alle sprechen vom Klima – nur Europas Wirtschaftsführer scheint die Erderwärmung kalt zu lassen. Was Schweizer Nationalräte davon halten.

Warum der Wachmacher gut für die Gesundheit ist

Im Gegensatz zur landläufigen Meinung können drei bis vier Tassen Kaffee pro Tag sogar vor schweren Krankheiten schützen.

Smartphone-Sucht: Drei Tipps von Mönchen aus dem 5. Jahrhundert

Ablenkung war schon in den mittelalterlichen Klöster ein Problem. Deshalb entwickelte man nützliche Strategien dagegen.

Diese Marken haben Zukunft in der Schweiz

Warum Post, Twint und Migros mit den Techfirmen mithalten können.

«Umgebt Euch mit jungen Chefs»

Nathalie Manac’h, Gründerin von Nat Coffee und ehemalige Diplomatin in Westafrika, über das Unternehmertum, die Rolle der Frauen in der Wirtschaft und wie aus ihrer Leidenschaft zu Kaffee und Myanmar ein Start-up entstand.

Wie das Brexit-Chaos die Schweizer EU-Politik beeinflusst

Die Chaostage in London verändern die Stimmabsichten zu den EU-Vorlagen in der Schweiz.

«Aufruf zum Vegetarismus, und die Hälfte der Mitglieder ist weg»

SP-Co-Generalsekretärin Rebekka Wyler erklärt, was ihre Aufgabe besonders anspruchsvoll macht, was die Generalsekretäre über die Parteigrenzen hinweg verbindet, und worin ihre Macht besteht, obwohl sie keine Befehle erteilen können.

Warum Blockchain Transparenz in die Verwaltung bringt

Beschaffungswesen, Grundbuchämter und öffentliche Zuschüsse: Diese drei Beispiele zeigen das Potenzial der Blockchain-Technologie.