Die Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten der Partizipation und führt zu einer enormen Ausweitung der Teilhabe am Diskurs. Dadurch befördert werden eine neue Individualisierung und die Entinstitutionalisierung von Macht. (Bild: Shutterstock)

Die Zahl von Referenden und Initiativen, die dank digital unterstützten Unterschriftensammlungen zustande kommen, nimmt markant zu. Wie die Parteien, die unser politisches System massgeblich tragen, damit umgehen sollen, ist ungeklärt. Folgerichtig hat NZZ-Inlandredaktor Fabian Schäfer kürzlich eine zentrale Frage aufgeworfen: «Wie sollen im Parlament noch Kompromisse gelingen, wenn plötzlich jede Interessengruppe referendumsfähig wird, nur weil sie schlaue Online-Strategen hat?»

Eine clevere Online-Strategie macht noch kein Referendum

Zur Erinnerung: Die Referendumsfähigkeit galt in der Schweiz lange Zeit als Eintrittsticket zum erlauchten Kreis von Verbänden und Parteien, der den politischen Projekten in der Eidgenossenschaft den letzten Schliff verpasste, damit diese mehrheitsfähig wurden. Nur wer seine Referendumsfähigkeit regelmässig unter Beweis stellte, wurde als politischer Machtfaktor anerkannt. Referendumsfähig waren meist nur straff geführte Verbände und Organisationen, die es schaffen konnten, innerhalb von 100 Tagen 50’000 Unterschriften zusammenzubringen.

Heute sind zunehmend auch lose Gruppierungen dank digitaler Lösungen in der Lage, die erforderlichen Unterschriften zu sammeln. Referendumsfähigkeit heisst aber auch, dass man schon mit einer Referendum-Drohung Druck auf das Parlament ausüben kann. Die neuen referendumsfähigen Gruppierungen drohen inzwischen schneller und häufiger mit einem Referendum, als dies früher der Fall war.

Da ich mich seit Jahren mit dem Thema politische Kommunikation, Social Media und Online-Kommunikation auseinandersetze, hat mich die Frage zum Nachdenken gebracht. Ich möchte vorausschicken, dass ich die meisten Punkte teile, die der Artikel «Es gibt viele Gründe, über die Parteien zu lachen oder zu fluchen – grossartig und unersetzlich sind sie trotzdem» (NZZ vom 11.02.21) zur Rolle der Parteien aufwirft. Die Bedeutung und der Einfluss von Parteien, aber auch von Verbänden und Organisationen haben in den letzten Jahren im gesellschaftlichen Diskurs abgenommen. Auch wenn das vielleicht im politischen System noch gar nicht spürbar ist. Dies hat eindeutig mit der Digitalisierung zu tun.

Aber eine Online-Strategie allein macht ein Netzwerk, eine Gruppierung oder einen Zusammenschluss – ja was eigentlich? – noch nicht referendumsfähig. Klar ist, dass eine gut vernetzte Gruppe gerade auf entsprechenden Social-Media-Kanälen, speziell auf Twitter, so viel Lärm machen kann, wie sie will. Erst mit dem Überschwappen in die Medien gewinnen die Forderungen an Relevanz. Ganz ohne Unterstützung durch ein Offline-Netzwerk, das heisst allein durch Online-Massnahmen, sind bis jetzt nur wenige Referenden zustande gekommen. Erstmals wohl beim Referendum über die Sozialdetektive. Meistens benötigt man neben einem Online-Formular und einer cleveren Online-Marketing-Strategie immer noch gewisse traditionelle Offline-Strukturen.

Dies war gerade während der letzten Monate zu beobachten, als es aufgrund der Coronavirus-Massnahmen nicht mehr oder nur erschwert möglich war, auf der Strasse Unterschriften zu sammeln. Das Referendum gegen das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) ist nur durch einen Schlussspurt verschiedener Player – natürlich auch online – zustande gekommen.

Was also ist der Einfluss der Digitalisierung auf die Politik?

Was steht uns bevor? Auf was sollen wir uns einstellen, wenn wir die skizzierte Entwicklung unserer politischen Entscheidungsfindung in der direkten Demokratie vor Augen haben? Ein Gedanke von Philip Manow, Politikprofesser in Bremen, hilft vielleicht weiter: «Die Demokratisierung des Zugangs, die enorme Ausweitung der Teilhabe am Diskurs befördert eine neue Individualisierung und Entinstitutionalisierung von Macht: Der Funktionsverlust der Agenten und Agenturen der Öffentlichkeitsproduktion (Zeitungen, Fernsehsender, Radioanstalten) korrespondiert mit dem Funktionsverlust von Parteien und Parlament.»

Die Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten der Partizipation und bietet vielen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, sich so zu vernetzen, wie es in der Vergangenheit nicht möglich war. Der Stammtisch in der Dorfbeiz und die Tageszeitung verlieren das Alleinstellungsmerkmal als politischer Tummelplatz. Plötzlich kann sich jeder auf Twitter Gehör verschaffen und auf Facebook seine Meinung kundtun. Mit einem Klick kann man seine Zustimmung für eine Aktion signalisieren, mit dem Eintrag seiner Mailadresse bei einer Petition kann jeder sein politisches Gewissen rasch befriedigen. Um aktiv zu werden, benötigt man keine Partei mehr und auch keinen Verband. Im Unterschied zur Parteiarbeit muss man sich auch nicht mit einer ganzen Themenpalette auseinandersetzen, sondern kann auf ein einziges Thema fokussieren.

Kein Wunder, ist in den letzten Jahren auch eine parallele Individualisierung der Gesellschaft zu beobachten, wenn es um das Politische geht. Es scheint, als wolle der Einzelne sich nicht mehr zu einer politischen Haltung bekennen, die sich über verschiedene Themen und Lebensfragen erstreckt, sondern er oder sie will sich je nach Thema autonom positionieren. Eine politische Weltanschauung muss heute nicht mehr in sich schlüssig sein. Vielmehr bedienen sich die Leute je nach Thema auch gerne à la carte. Abgesehen davon, dass sich viele vor einem politischen Engagement zieren, weil es in den bestehenden Parteistrukturen länger dauern kann, bis man eine gewisse Funktion innehat, die dann auch den entsprechenden Einfluss verspricht.

Das Drama der Parteien – die anderen dürfen maximal fordern und müssen trotzdem keine Lösungen liefern

Während Parteien eine ganze Themenpalette fundiert bearbeiten müssen und so auch finanziell immer wieder in Abstimmungskämpfe verwickelt werden, können sich Organisationen und Gruppierungen auf ein einzelnes Thema konzentrieren und dieses auf allen zur Verfügung stehenden Kanälen bespielen. Dagegen können Parteien inzwischen häufig nur noch auf Referenden reagieren und auf einen fahrenden Zug aufspringen.

Ähnlich präsentiert sich die Ausgangslage im Politbetrieb: Hier müssen sich die Parteien auf einen Diskurs einlassen und im Parlament versuchen, Kompromisse zu finden. Derweil können Organisationen auf ihren Forderungen beharren und sich kompromisslos zeigen. Unabhängig davon, ob dieses Beharren zielführend ist, kann diese Strategie bei der eigenen Positionierung und Inszenierung äusserst hilfreich sein, was die Gefolgschaft meist mit zusätzlichen Spenden honoriert. Die pointierte und teilweise dramatisierte Haltung hilft auch, auf Social Media Reichweite aufzubauen. Denn Online-Kommunikation braucht Aufmerksamkeit. Nur so sprechen auch die Medien auf die Gruppierung und deren Forderungen an.

Themen werden wichtiger als ein politisches Programm

Die Kompromissfindung wird somit schwieriger. Aber nicht, weil clevere Online-Campaigner am Werk sind oder eine Art E-Collection, also das vollelektronische Sammeln von Unterschriften, zum Einsatz kommt. Vielmehr, weil durch die erwähnte Vernetzung ganz bestimmte Themen wichtiger werden. Gerade in der Schweiz, mit den häufigen Abstimmungen, sind Themen eigentlich zentral.

Und gerade das Tempo bei den Auseinandersetzungen um Themen hat online in den letzten Jahren enorm zugenommen. Die Mühlen der Politik mahlen noch immer im gleichen Tempo wie bisher. Dies führt zu einer ständigen Gereiztheit im Netz und zu einem allgemeinen Gefühl, dass die Politik bei der Lösungsfindung nicht vorwärtsmachen wolle. Was wiederum das Misstrauen stärkt und somit auch das Misstrauen in die Kompromisse, die im Parlament beschlossen werden. Man könnte von Staatsverdrossenheit sprechen.

Hier drängt sich ein Blick in die Vergangenheit auf: In den 1960er-Jahren diagnostizierten Politiker und Staatsrechtler die sogenannte «Helvetische Malaise». Die Erwartungen der Bevölkerung und das, was der Staat leisten konnte, drifteten auseinander. Man fürchtete, dass gerade die jungen Erwachsenen dadurch in eine fundamentale Staatsverdrossenheit abdriften könnten. Damals brachte das eine breite politische Diskussion in Gang. Letztlich stiess sie eine Reform der Bundesverfassung an. Für unsere Zeit von Interesse: In diesem Projekt wollte man sich explizit Gedanken zu den Grundlagen und zur Zukunftsfähigkeit der Eidgenossenschaft machen. Man wollte die wichtigen und funktionierenden Institutionen des Staates damit auch schützen,

Nun gilt es, die neue Staatsverdrossenheit anzuerkennen. Vielleicht muss man sogar eine neue Malaise diagnostizieren. Dann könnte man (endlich) nach Lösungen suchen.

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