«In der Seifenkiste unterwegs zum Mars»

Gianna Luzio ist Generalsekretärin der neuen Mittepartei. Sie verrät, was die Arbeit in der Parteizentrale in der Pandemie anspruchsvoll macht und warum mehr Mitglieder nicht automatisch mehr Macht bedeuten.

Für Mitte-Generalsekretärin Gianna Luzio war die Parteifusion der CVP mit der BDP inklusive Namenswechsel bereichernd: «Ich sehe es eher als Startpunkt denn als Ergebnis. Es ist die Gelegenheit, um zu sagen, dass Konsens und Kompromiss keine Schimpfwörter sind, sondern wichtig für unser Land, damit wir miteinander funktionieren können.» (Foto: zvg.)

Gianna Luzio ist Generalsekretärin der neuen Mittepartei. Sie verrät, was die Arbeit in der Parteizentrale besonders anspruchsvoll macht und warum mehr Mitglieder nicht automatisch mehr Macht bedeuten.

Gianna Luzio, was heisst für Sie Macht*?

Macht heisst Verantwortung, aber auch – im besten Sinn – Lust am Gestalten und am Mitwirken.

Hat die CVP nach der Fusion mit der BDP zur Mittepartei an Macht gewonnen?

Das glaube ich nicht. Mit der Fusion in der politischen Mitte konnte vor allem eine Chance realisiert werden, um die Partei zugänglicher und sichtbarer zu machen für all die vielen Menschen in der Schweiz, die sich eine konstruktive Politik für unser Land wünschen.

Die Macht der Mitte ist mit der höheren Mitgliederzahl der Partei nicht gestiegen?

Ich sehe es eher als Startpunkt denn als Ergebnis. Es ist die Gelegenheit, um zu sagen, dass Konsens und Kompromiss keine Schimpfwörter sind, sondern wichtig für unser Land, damit wir miteinander funktionieren können, nicht gegeneinander. In den letzten zwei, drei Jahrzehnten hat sich in der politischen Landschaft der Schweiz – befeuert von gewissen Kräften – der Eindruck breitgemacht, es gebe eine politische Elite, die sich nicht für die echten Sorgen der meisten Menschen interessiere. Das stimmt ganz einfach nicht. Gerade die Schweiz ist ein Land, in dem man sich auf allen Ebenen sehr direkt einbringen und mitmachen kann. Sei es, indem man abstimmt, wählt, oder indem man sich selber politisch engagiert.

Am Ende resultiert aber mehr Macht?

Das ist selbstverständlich ein Ziel. Ich glaube nicht, dass die Mitte mit der Fusion von CVP und BDP automatisch mehr Macht hat. Der Zusammenschluss bietet aber eine Chance, um dorthin zu kommen. Eine Stärkung der konstruktiven politischen Mitte wäre gut für unser Land.

Wozu ein zweiter Bundesratssitz beitragen würde?

Das hat unser Parteipräsident bereits öffentlich in den Raum gestellt. Ja, klar, würde das helfen.

Die Grünliberalen denken schon laut über einen Einzug in den Bundesrat nach. Wann möchte die Mitte angreifen?

Wir müssen über Konkordanz nachdenken, über unser Regierungsmodell, das seit Ende der 50er-Jahre so gilt, wie wir es kennen. Ziel der Konkordanz ist eigentlich, in der Regierung eine möglichst grosse Repräsentanz der im Parlament vertretenen Parteien zu erreichen. Die Frage, ob das Modell diesem Anspruch noch gerecht wird, wird spätestens nach den Wahlen 2023 ein nächstes Mal konkret zu beantworten sein.

Wie stressig war es, im Corona-Jahr die Fusion durchzuziehen?

Beruflich war das vergangene Jahr für mich so bereichernd, wie ich es noch selten erlebt habe. Ich finde es immer spannend, wenn ich Neues lernen kann und vor eine Aufgabe gestellt werde, die ich so noch nie bewältigen musste. Die Gelegenheit hatte ich 2020 mehrere Male. Von einem Tag auf den anderen war das Team im Homeoffice. Wir organisierten einiges, was unsere Partei in ihrer langen Geschichte noch nie getan hatte, oder zumindest schon lange nicht mehr. Die Urabstimmung war eine Premiere, die Namensänderung die erste seit 50 Jahren. Das hat viele juristische und zwischenmenschliche Aspekte, in gewisser Hinsicht fast schon psychologische.

Inwiefern?

Eine Partei ist keine Firma, sondern eine Organisation, die von sehr viel Freiwilligenarbeit und sehr viel Engagement lebt. Da kann man als Generalsekretärin, selbst wenn man die Verantwortung fürs Organisatorische trägt, selten befehlen. Top down funktioniert nicht.

Sie klagen gar nicht über Corona.

Was ich nicht ändern kann, versuche ich rasch zu integrieren und mich nicht daran abzuarbeiten. Es war aber schon nicht ganz einfach, Mitte Oktober zu merken, dass die Fallzahlen stark ansteigen, wenn Ende November die Delegiertenversammlung mit den wichtigen Entscheidungen ansteht, für welche die grosse Mehrheit der Anwesenden nötig ist. In dem Moment mussten wir entscheiden, ob wir den Anlass vertagen, digital durchführen oder eine Mischform versuchen wollen. Wir hatten dann die Idee, die Versammlung dezentral an 13 Orten durchzuführen, die via Übertragung miteinander verbunden waren. Ich bin stolz auf die Leistung des Teams. Wir haben diese wichtige DV innerhalb von vier Wochen regelrecht aus dem Boden gestampft.

Bevor Sie zur CVP stiessen, haben Sie unter anderem im Stab von SP-Bundesrat Alain Berset, unter einem FDP-Bundesrat im Staatssekretariat für Wirtschaft und für die Finanzdelegation des Parlaments gearbeitet. Sind Sie die personifizierte Mitte?

(lacht) So habe ich das noch nie betrachtet und finde es ein bisschen hoch gegriffen. Was aber in meiner Biografie liegt: Ich bin als Rätoromanin in einem Bergkanton aufgewachsen und spreche Surmiran, nicht gerade das meistverbreitete der rätoromanischen Idiome. Also gehöre ich zur Minderheit der Minderheit. Und ich habe mich immer gerne aktiv eingebracht, engagiert und etwas in Bewegung gesetzt, ob das nun im Graubünden die Lancierung eines Kulturfestivals oder eines Naturparks war oder in Bern das Engagement für das Alpine Museum. Das ist eher der rote Faden, den ich sehe.

Wo ist die Macht beziehungsweise die Möglichkeit zu gestalten, am grössten: im Umfeld eines Bundesrats, in einem Bundesamt, bei einer zentralen Kommission des Parlaments oder in der Zentrale einer Partei?

Ich stelle einfach fest, dass in der Schweiz die Exekutive am besten mit Ressourcen ausgestattet ist, gerade auch im Vergleich zur Legislative, obwohl diese Entscheide fällen muss, welche für die Gesellschaft weitreichend sind. Und ich sage nicht nur als Generalsekretärin einer Partei, dass die Parteien zwar in unserem politischen System eine in der Verfassung festgeschriebene Rolle wahrnehmen, aber als vergleichsweise kleine Organisationen auf Freiwilligenarbeit und Spenden angewiesen sind. Damit bieten die Parteien ebenso wie das Parlament der Interessensvertretung der Verbände eine grössere Angriffsfläche.

Was schlagen Sie vor?

Ich möchte Frankreich nicht als Vorbild nennen. In meiner Zeit bei der Finanzdelegation bekam ich aber Gelegenheit, die Arbeitsweise des französischen Parlaments kennenzulernen und habe festgestellt, dass die Parlamentarier dort ganz andere Unterstützung erhalten als bei uns. Wir romantisieren das immer ein bisschen unter dem Titel «Milizparlament». Ein Milizparlament wäre aber immer noch ein Milizparlament, auch wenn es sich ein bisschen mehr unabhängige fachliche Unterstützung leisten würde. Und es könnte wirksamer arbeiten.

Ist das Besondere am Job der Generalsekretärin einer Partei, dass es keinen typischen Tagesablauf gibt?

Das war auch beim Kulturfestival nicht anders. Auch da ging es darum, mit Freiwilligen und knappen Ressourcen zu arbeiten und einfache Lösungen für auf den ersten Blick unlösbare Aufgaben zu finden. In einem Grossbetrieb wie der Bundesverwaltung ist das so nicht möglich. Dort sitzt du eher ein bisschen im Rolls-Royce, bist aber umgekehrt nicht so flexibel. Ein Generalsekretariat einer Partei vergleiche ich jeweils mit einer Seifenkiste, die unterwegs zum Mars ist.

Wie lang ist Ihr Arbeitstag?

In der Regel beginne ich am Morgen zu arbeiten und höre am Abend auf. (lacht) Sicher sind meine Arbeitstage etwas länger. Das liegt aber auch daran, dass in meinem ersten Jahr als Generalsekretärin gerade nationale Wahlen anstanden und im zweiten Jahr der grosse Strategieprozess. Ich hege schon eine gewisse Hoffnung, dass es sich im dritten Jahr einpendelt auf ein Niveau, das nur ein bisschen über dem Durchschnitt liegt. Und doch mache ich mir keine Illusionen: Politik hält sich nicht an Bürozeiten.

Sie waren Mitglied des Bündner Kantonsparlaments und haben für den Nationalrat kandidiert. Möchten Sie selber voll in die Politik einsteigen wie Ihr Vorgänger Reto Nause, der seit Jahren die Stadt Bern mitregiert?

Das ist etwas, was ich für mich zwar nicht ausschliesse. Durchaus interessant finde ich auch das Gesundheitswesen, wo sich einiges an komplexen Problemstellungen angesammelt hat. Ich bin aber erst seit zweieinhalb Jahren im Generalsekretariat der Partei, finde es nach wie vor spannend und habe das Gefühl, noch viel lernen, mitgestalten und beitragen zu können. Im Moment bin ich darum voll und ganz Generalsekretärin der neuen Mitte, wo noch sehr viel aufgebaut werden muss, von der neuen Webseite bis zu einem neuen Leitbild. Von der Vorbereitung der Wahlen 2023 und unserem Förderprogramm für politische Talente ganz zu schweigen.

Wie ist die Zusammenarbeit mit Gerhard Pfister, der als hochintelligenter, aber nicht immer ganz einfacher Mensch gilt?

Ich erlebe die Zusammenarbeit mit ihm als ausgezeichnet. Sie ist ausgesprochen bereichernd und spannend.

Wer darf Ihnen privat widersprechen?

Mein Mann, meine Schwestern, letztlich alle. Ich finde Widerspruch etwas ganz Wichtiges im Leben und scheue ihn auch nicht. Als Bündnerin merke ich, dass in Bern mit Konflikten anders umgegangen wird als in anderen Teilen des Landes. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, wo man die Dinge ausgesprochen und oft und gerne Konflikte ausgetragen hat. Die Faust im Sack zu machen, ist nicht so mein Ding.

Sie engagieren sich seit Jahren für den Kanton Graubünden, für die romanische Kultur und für das Berggebiet. Ziehen Sie sich in Ihren Heimatkanton zurück, wenn es Ihnen in Bern zu eng oder zu stressig wird?

Immer und gern. Mein Zuhause ist für mich der Ort, wo ich, wenn ich schon nur einen Tag dort bin, Boden unter den Füssen gewinne. Ebenso Abstand und eine gesunde Perspektive auf das, was in der Welt wichtig ist – und was manchmal nur wichtig zu sein scheint.

Unternehmen Sie dann tagelange Wanderungen?

In der Freizeit bin ich nicht so leistungsorientiert. Ich gehe wohl viel in die Natur, wandere gerne oder steige im Winter auf die Langlaufski. Es tut mir aber vor allem gut, mit denjenigen Menschen zu sprechen und Zeit zu verbringen, die ich schon seit jeher kenne und die mich schon immer kennen.

Gianna Luzio (40) hat Geografie und Volkswirtschaft studiert. Bevor sie im Herbst 2018 die Leitung des CVP-Generalsekretariats übernahm, arbeitete sie unter anderem bei der Finanzdelegation der eidgenössischen Räte, im Staatssekretariat für Wirtschaft sowie als Fachreferentin für Bundesrat Alain Berset. Die Bündnerin ist Präsidentin des Stiftungsrats des Alpinen Museums Schweiz. Sie spricht alle vier Landessprachen fliessend und lebt mit ihrem Mann in Bern.

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