Neue Haltung zur Privatsphäre: Bis vor kurzem war das Schlafzimmer ein sehr intimer Ort. Jetzt nehmen die Menschen von dort aus an Sitzungen teil. (Foto: Shutterstock)

Maak erzählte jüngst in einem Interview von seinen Erlebnissen in den Video-Chats, die physische Meetings während der Pandemie weltweit nahezu verdrängt haben. Die Menschen, mit denen er per Video-Chat sprach, waren zuhause in ihrer Wohnung. Viele sassen sogar auf ihrem Bett, wenn sie kommunizieren mussten. Für Maak steht darum fest: «Wir erleben gerade einen grundlegenden Wandel, den wir noch gar nicht richtig begreifen.» Das Haus war traditionell der Raum, in den die Menschen sich zurückzogen. Vor allem das Schlafzimmer war immer ein privater, ein intimer Ort. Jetzt machen die Menschen aber dort am Laptop das, was man früher auf dem Marktplatz tat. Nämlich: Dinge produzieren, Handel betreiben, Neuigkeiten austauschen. Für Maak ist klar: «Die gelernte Trennung, dass die Strasse der öffentliche Raum ist und das Haus, vor allem das Schlafzimmer, der private, ist gekippt.»

Auch die Technologie trägt zu einem Wandel der Wahrnehmung bei

In die Fragestellung rund um Privatsphäre und Öffentlichkeit gehören für Maak auch die neuen Technologien, die den Menschen Daten zu ihrem Lebenswandel liefern. Doch wer sie nutzen will, muss sich zuhause immer stärker überwachen lassen. Oder wie es Maak sieht: «Wenn das Internet der Dinge sogar meinen Schlaf trackt und ich morgens auf meiner iWatch meine ‹Schlaf-Performance› nachschauen kann, dann ist selbst der Schlaf nicht mehr privat.» Gleichzeitig gäbe es Anzeichen, dass der öffentliche Raum zum neuen Rückzugsort werden könnte: «Wenn jemand acht Stunden vor dem Laptop sitzt und sich filmen lässt, und dann nach Feierabend auf die Strasse geht, um etwas Luft zu schnappen – dann ist das vielleicht ein sehr privater Moment.»

Maak plädiert dafür, dass wir bestimmte Begriffe schlicht aufgeben sollten. Denn gerade die Unterscheidung von «privat» und «öffentlich» biete nicht mehr die beste Beschreibung dafür, wie die Menschen derzeit wohnen und leben. Für Maak ist klar: «Unsere Idee von Privatheit basiert auf einem ungesunden Konzept: Nämlich auf dem Gedanken, dass wir in ein Kollektiv geboren werden und im Akt der Individuation aus diesem Kollektiv heraustreten, indem wir uns ein Stück Land sichern und das dann mit Mauern und Zäunen abgrenzen.» Das Private gegen die Begehrlichkeiten der anderen zu verteidigen – im Kern sei das ein kriegerischer Individualismus.

Was könnte dann eine bessere Beschreibung sein? Maak glaubt nicht, dass wir diese neuen Beschreibungen schon gefunden haben: «Wir werden sie verhandeln müssen», gibt sich der deutsche Harvard-Professor überzeugt. «Im Französischen gibt es einen schönen Ausdruck, der zeigt, dass Für-Sich-Sein das Beisammensein nicht ausschliessen muss: être chez-soi», erklärt Maak. Das bedeute: «Ich bin der Gast von jemandem, der ich selbst bin. Das ist eine philosophische Miniatur, die ausdrückt: Ich kann nur ich selbst sein, wenn ich zwei Personen bin, ein Gastgeber und einer, der um Einlass bittet.» Das Ideal, das Leben nach einem eigenen Rhythmus zu führen, brauche also schon die kleinstmögliche Öffentlichkeit: das eigene Selbst.

Corona und Homeoffice – Was passiert mit den städtischen Zentren?

Die gleichen Fragen stellen sich auf einer grösseren Ebene. Was passiert mit den städtischen Zentren, wenn plötzlich viele Leute gar nicht mehr in die Städte pendeln müssen, weil sie im Homeoffice arbeiten. Für Maak ist klar: «Wir erleben gerade, wie eine Mischung aus technologischem Wandel und ökonomischem Druck das ganze System Stadt umschmeisst.» Der eingeübte Vorgang, dass der Mensch ausserhalb eines Zentrums wohnt, sich morgens in sein Auto setzt, eine Stunde durch den Morgenstau Richtung Stadt fährt, dort tagsüber in einem Turm arbeitet und sich abends wieder auf den Heimweg macht, werde unterbrochen: «Weil es technisch möglich, ökonomisch günstig und epidemiologisch sinnvoll ist, Angestellte vom Wohnzimmer aus arbeiten zu lassen», sagt Maak.

Doch können wir einfach so auf die Zeit und vor allem auf die Tätigkeit im Zentrum verzichten? Es stellen sich noch weitere Fragen, meint Maak dazu: «Wenn wir nicht mehr in die Stadt fahren, um dort zu shoppen, dort ins Kino zu gehen oder unsere Bankgeschäfte abzuwickeln – was ist dann noch die Funktion des Zentrums?» Und was soll man mit den Tausenden Bürotürmen, Postämtern, Banken und Einkaufszentren anfangen, die in einer längeren Perspektive irgendwann leer stehen werden? Für den deutschen Denker steht aber fest: «Wir Menschen sind doch keine Roboter – sondern soziale Wesen, die Sehnsucht nach Kontakt haben.» Man sehe doch gerade in der Zeit von Corona auch, wie schwer es den Leuten fällt, Abstand zu halten, nicht rauszugehen, sich nicht zu verabreden. Maak: «Das Bedürfnis nach körperlicher Nähe verschwindet nicht mit der Digitalisierung, ganz im Gegenteil. Der Reiz der Digitalisierung liegt in vielen Lebensbereichen eher darin, dass neue Formen von Nähe möglich sind, wo sie früher gar nicht denkbar waren.»

Entwickelt sich ein neues Verständnis von Nähe?

In Zeiten von Corona darf man sich fragen, wie dieses Bedürfnis nach Nähe den öffentlichen Raum prägen wird. Schliesslich sind Treffen an der frischen Luft weniger risikoreich als im Inneren von Gebäuden. Maak rechnet mit einer grundsätzlichen Wandlung der Sichtweise, wie die Gesellschaft die Öffentlichkeit bewertet. In der Vergangenheit nahm man den öffentlichen Raum nicht als Ort der Möglichkeiten, sondern als Ort der Gefahr wahr. So wurden Autos in den 1960er-Jahren etwa mit grosszügigen Fenstern gebaut, liessen viel Sonne in den Innenraum, der Fahrer wollte gesehen werden. Dagegen würden viele der aktuellen Auto-Designs Aggressivität repräsentieren, als ginge es darum, unbeschadet ein Kriegsgebiet zu durchqueren. Maak sieht hier Anzeichen für einen Wandel: «Jetzt, wo der Aufenthalt in luftdicht abgeschlossenen Räumen potenziell lebensgefährlich ist, kommen die diversen Rituale der Abschottung vielleicht an ihr Ende.» Die Epidemie zwinge die Leute, rauszugehen und einen vormals distanzierten Raum wieder als Treffpunkt zu verstehen. Wer weiss, so Maak, «vielleicht entwickelt sich so ein neues Verständnis von Nähe.»

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