«Politische Bildung darf nicht dem Zufall überlassen werden»

Anders als früher regle sich die Demokratiekunde nicht mehr einfach am Familientisch, sagt Monika Waldis Weber. Die Fachfrau für politische Bildung nimmt die Schulen in die Pflicht.

Flankiernde Massnahmen in der schulischen Bildung bei Stimmrechtalter 16: Das empfiehlt Monika Waldis, Expertin für politische Bildung: «Jugendliche bringen durchaus die Fähigkeiten mit, politisch aktiv zu werden.» (Foto ZVG)

Influence: Wie ist es um die politische Bildung der Schweizerinnen und Schweizer bestellt?

Monika Waldis Weber: Schwer zu sagen, da es an empirischen Daten fehlt. Über jene, die Wahlen und Abstimmungen fernbleiben und sich nicht in die öffentliche Diskussion einmischen, wissen wir nicht viel. Und unter jenen, die sich öffentlich äussern – und dazu bieten die sozialen Medien durchaus Gelegenheit –, finden sich Nörgler, Stimmungsmacher und solche, die gut informiert und mit nachvollziehbaren Argumenten ihre Meinung vertreten können.

Genügt der Stand der politischen Bildung noch, um die weitreichenden demokratischen Rechte in der Schweiz wahrzunehmen?

Waldis: Auf eine schulische politische Bildung, die sich an alle Heranwachsenden in der Schweiz richtet, hat die Schweiz bisher nur zögerlich gesetzt, im Vertrauen, das richte sich im Privaten. Aber die Gesellschaft ist vielfältiger geworden. Deshalb kann man nicht davon ausgehen, dass politische Sozialisationsprozesse in der Familie, unter Gleichaltrigen, in Vereinen und weiteren Interessengruppen weiterhin gleich funktionieren. Wir erleben derzeit einen grossen Umbruch im Mediensystem, welches mit unabhängiger Berichterstattung zur Bildung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger beiträgt. Der Druck ist enorm. Vieles läuft über soziale Medien. Da spielen Kräfte mit, deren Wirkung wir derzeit noch nicht abschätzen können.

Bildung beginnt in der Schule, wo der Lehrplan 21 den Erwerb politischer Kompetenzen und von Sachwissen postuliert. Reicht die Umsetzung in der Praxis?

Waldis: Positiv zu bewerten ist, dass politische Bildung im Lehrplan 21 als Kompetenzbereich gestärkt wurde. Allerdings stellt sich die Frage, ob die für politische Bildungsprozesse notwendige Zeit zur Verfügung steht, oder ob im Unterricht einfach die vorgegebenen Themen abgearbeitet werden. Zusätzlich ist politische Bildung als überfachliches Bildungsziel festgeschrieben. Damit sind verschiedene Lehrpersonen angesprochen, vom Geschichtslehrer über die Geographielehrerin und den Deutschlehrer bis zur Musiklehrerin. Oder keine von ihnen.

Wie gut sind die Lehrerinnen und Lehrer vorbereitet?

Waldis: Im Gegensatz zu Deutschland oder Österreich kann politische Bildung aktuell nicht als Fach, sondern lediglich in einer Fächerkombination wie Geografie und Geschichte studiert werden nebst dem Studium von weiteren zwei bis drei Schulfächern. Dabei sind der fachlichen Vertiefung Grenzen gesetzt. Erfahrene Lehrpersonen haben bisher keine spezifische Ausbildung genossen. Ein Teil von ihnen besucht derzeit Weiterbildungen.

Wie gehen die Betroffenen mit dem Defizit um?

Waldis: Eine Frage, die Lehrpersonen häufig stellen, lautet: Muss mein Unterricht politisch neutral sein? Da herrscht zurzeit eine grosse Verunsicherung. Dabei hat die Fachdidaktik bereits 1976 eine einfache, aber hilfreiche Handlungsmaxime formuliert: Erstens dürfen Lehrpersonen die Schüler nicht mit ihrer eigenen Meinung überwältigen, sondern sollen diese in die Lage versetzen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Zweitens muss das, was in Politik und Wissenschaft kontrovers diskutiert wird, auch im Unterricht kontrovers abgebildet werden. Und drittens soll der Unterricht so gestaltet werden, dass Schülerinnen und Schüler ihre Interessen und Fragen am Thema erkennen und verfolgen können. Diese einfache Leitplanke macht Lehrpersonen in ihrem Handeln sicherer.

Bildet die föderalistische Struktur einen zusätzlichen Hemmschuh?

Waldis: Zunächst: Ja. Es müssen 26 Bildungsdepartemente und ihre Vorsteher überzeugt werden, allenfalls auch das Stimmvolk. Andererseits gibt es Raum für Projekte. So hat der Kanton Tessin an der Urne entschieden, dass mindestens zwei Lektionen politische Bildung pro Monat unterrichtet werden. Im Kanton Aargau ist dafür in der 9. Klasse eine Lektion pro Woche reserviert. Föderalismus heisst auch, dass unter dem Begriff der politischen Bildung nicht überall das Gleiche verstanden wird. Der traditionellen Staatskunde steht ein breiteres Verständnis einer staatsbürgerlichen Bildung gegenüber, welche auch die Fähigkeit zum politischen Argumentieren, Handeln und Urteilen umfasst.

Der Nationalrat hat sich für das Stimmrechtsalter 16 ausgesprochen. Im richtigen Moment?

Waldis: Jugendliche bringen durchaus die Fähigkeiten mit, politisch aktiv zu werden, wie die Schulstreiks für das Klima und die «Black lives matter»-Bewegung gezeigt haben. Sie bei der Entwicklung politischen Interesses zu fördern, ist sicherlich richtig. Die konkreten Erfahrungen mit dem Stimmrechtsalter 16 sind allerdings bis jetzt eher ernüchternd. Im Kanton Glarus etwa hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, dass mehr Junge bei kantonalen Abstimmungen und Wahlen mitmachen würden. Es gibt keinen Automatismus, wonach ein tieferes Stimmrechtsalter die Partizipation erhöht. Deshalb empfehle ich flankierende Massnahmen bei der schulischen Bildung, weil diese alle Kinder und Jugendlichen erreicht.

Woran denken Sie?

Waldis: Die Bildungsziele, welche der neue Lehrplan 21 für die Volksschule vorgibt, sind umzusetzen. Es braucht zudem ein stärkeres Bekenntnis zur politischen Bildung auf der Sekundarstufe II. Die jetzt vorliegenden Lehrpläne in den Gymnasien und Berufsschulen regeln das nur in Ansätzen.

Wie sieht es ausserhalb der Schulen aus?

Waldis: Die Angebote und Initiativen sind äusserst vielfältig. Allerdings fehlt es an einer gewissen Koordination und Struktur, um gemeinsam wirksam zu sein. Zahlreiche Akteure kämpfen um Finanzen. Häufig ist es schwierig, die Kontinuität eines Bildungsangebots sicherzustellen. Es muss zudem geklärt werden, ob die Angebote die Zielgruppe in ihrer ganzen Breite erreichen, also auch Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten.

Wenn man die Demonstrationen der Verschwörungstheoretiker sieht, bekommt man den Eindruck, es bleibe noch viel zu tun.

Waldis: Das Phänomen ist relativ neu und muss beobachtet werden. Sicher ist: Soziale Medien und das Internet insgesamt verfügen über ein Aktivierungspotential, mit dem latent zugängliche Personen und Personengruppen gezielt angesprochen werden können. Zusätzlich zu digitalen Echokammern braucht es Gesprächspartner in der analogen Welt. Mit ihnen sollen Kinder und Jugendliche das, was sie im Internet sehen und erfahren, diskutieren dürfen.

Macht es den Umgang mit den Verschwörungstheoretikern einfacher, dass sie neuerdings auf die Strasse gehen und damit sichtbarer werden?

Waldis: Es ist eine Chance, denn so lassen sich die Argumente auslegen. Es gibt aber eine kleine Gruppe von Menschen, die man mit Argumenten nicht erreicht. Das Augenmerk bei sich radikalisierenden Bewegungen gehört den Mitläuferinnen und Mitläufern. Insgesamt geht es um Prävention, zu der eine historisch-politische Bildung beitragen kann. Heranwachsende sollen erkennen, wohin Radikalisierung in einer Gesellschaft führen kann und dass Werte wie Demokratie, Grundrechte, Menschenrechte sowie funktionierende Institutionen Errungenschaften sind, zu denen wir Sorge tragen müssen.

Würde sich diese Erkenntnis durchsetzen, wären Fake News auch kein Thema mehr?

Waldis: Fake News fallen dort auf fruchtbaren Boden, wo wenig Vertrauen in die Institutionen herrscht. Bei latenter Unzufriedenheit hinterfragt man nicht mehr kritisch. Natürlich muss das Phänomen mit Kindern und Jugendlichen besprochen werden.

Wie fördert das Zentrum für Demokratie politische Bildung?

Waldis: Wir beschäftigen uns derzeit mit Herausforderungen einer Demokratie im digitalen Zeitalter. Die Konzepte brauchen eine Transformation in die Praxis. Wir entwickeln Lernmaterialien und Aufgaben für Schülerinnen und Schüler. Mit Methoden sozialwissenschaftlicher Forschung überprüfen wir ab und an, ob wir die anvisierten Lernziele erreichen. In einem kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojekt begleiteten wir die Lehrpersonen mit der Videokamera, um zu sehen, wie sie nach der Weiterbildung die erarbeiteten Themen im Politikunterricht mit ihren Klassen umsetzen. Die Erkenntnisse haben wir bei der Planung der nächsten Weiterbildung berücksichtigt.

Da läuft Einiges. Dennoch hat man den Eindruck, das Thema politische Bildung sei noch nicht richtig auf der politischen Agenda angekommen. Warum?

Waldis: Politische Bildung geniesst nur beschränkt die Unterstützung von Seiten der Politik. Man ist sich betreffend Zuständigkeiten von Bund und Kantonen uneinig. Manche Politiker haben noch das alte Konzept der Staatskunde vor sich und sehen dieses bereits eingelöst. Dabei braucht die Frage, was Kinder und junge Erwachsene benötigen, um sich in der Gesellschaft zurechtzufinden und politische Mitverantwortung zu übernehmen, eine umfassende Klärung. Mit den aktuellen gesellschaftlichen Umbrüchen steht viel auf dem Spiel. Politische Bildung darf nicht dem Zufall und den Algorithmen des Internets überlassen werden.

Womit beschäftigen Sie sich in Ihrer Freizeit – mit der politischen Bildung Ihrer drei Kinder im Teenager-Alter?

Waldis: Natürlich sind politische Fragen bei uns Thema, nebst vielen anderen Themen. Ich bin gern in der Natur unterwegs, sei es mit dem Bike oder auf grossen Wanderungen. Wieder zurück, trifft man mich häufig lesend an. Gesellschaftliche Fragestellungen und deren Betrachtung aus der Perspektive von Geschichte, Politikwissenschaft, Philosophie, Literatur und bildender Kunst interessieren mich sehr.

Monika Waldis Weber absolvierte in Zofingen eine Erstausbildung zur Primarlehrerin. Berufsbegleitend studierte sie an der Universität Zürich Erziehungswissenschaft, Soziologie und Medienwissenschaft und promovierte mit einer Arbeit zur videobasierten Unterrichtsforschung. Seit 2016 leitet Waldis das Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik am Zentrum für Demokratie Aarau. Die Mutter von drei Kindern im Alter von 12 bis 19 Jahren lebt in Wettingen (AG).

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