«Das ist kein Missbrauch, sondern Ausdruck des Zeitgeistes»

SRG-Ombudsfrau Esther Girsberger hat kein Problem mit orchestrierten Beschwerden. Sie erklärt, warum sie nicht mehr Chefredaktorin sein möchte und warum Frauen schneller ernst genommen werden als Männer.

Die Reklamationen der Fernsehzuschauer und Radiohörerinnen bei der Ombudsstelle SRF haben im ersten Halbjahr 2020 alle Rekorde gebrochen. War es die Berichterstattung über Corona, welche die Leute so aufgebracht hat? 
Als Kurt Schöbi und ich mitten im Lockdown als Ombudsleute anfingen, merkte man deutlich, dass die Leute Zeit hatten und die Informationssendungen von SRF gewaltig beachtet wurden. Die Pandemie betrifft jeden und jede, da liegt es auf der Hand, dass sie zu vielen Beanstandungen führte. Es gab unterschiedliche Phasen. In einer ersten Phase lautete die Kritik: Wie könnt ihr die Bundesverwaltung überhaupt in Frage stellen? In einer zweiten Phase kam die Frage nach der Deutungshoheit von Wissenschaft und Politik. Und in einer dritten Phase standen Einwände gegen unkritische Berichterstattung und Verschwörungstheorien im Vordergrund.

War die Kritik berechtigt – wie gut oder wie schlecht hat sich SRF durch die Krise geschlagen?
SRF hat wohl keinen Aspekt, der einen Beitrag verdient hätte, ausser Acht gelassen. Insbesondere die Online-Berichte und das aufbereitete Zahlenmaterial waren beeindruckend. Natürlich hätte das eine oder andere besser und auch kritischer ausfallen können. Aber im Nachhinein auf hohem Niveau kritisieren zu wollen, bringt wenig.

Nicht nur Corona beschäftigt die Ombudsstelle. Allein gegen die «Arena» über Rassismus, deren Titel «Jetzt reden wir Schwarzen» Sie gerügt haben, gab es 220 Beanstandungen. Liegt das am Thema? 
Rassismus ist tatsächlich ein sensibles Thema. Die Art und Weise, wie die Sendung zu diesem heiklen Thema angekündigt und wie sie in der bekannten Besetzung umgesetzt wurde, hat zu vielen Beanstandungen geführt.

Warum ist es immer wieder die «Arena», die eine Flut an Beschwerden auslöst?
Das hat primär mit dem Sendungskonzept zu tun. Die «Arena» beschreibt sich selbst als eine «politische, kontroverse» Diskussion. Allein die Kombination von Politik und kontrovers bewirkt sehr viel Aufmerksamkeit. Wenn dann zwei politische Lager aufeinanderprallen, fühlen sich naturgemäss Leute aus dem einen oder anderen Lager benachteiligt. Im speziellen Fall der «Rassismus»-Sendung vom 12. Juni stellt sich zusätzlich die Frage, ob die «Arena» das richtige Gefäss für dieses Thema war. Denn Rassismus ist nicht in erster Linie eine politische Angelegenheit, sondern eine Frage der Haltung.

Den Rekord hält die «Arena» mit Historiker Daniele Ganser mit 500 Beanstandungen. Ihr Vorgänger Roger Blum nannte die orchestrierten Eingaben einen Missbrauch der Ombudsstelle. Einverstanden?
Das ist kein Missbrauch, sondern Ausdruck des Zeitgeistes. Heutzutage kann man sich viel besser und schneller organisieren. Das sieht man bei den Leserbriefen, die vor Abstimmungen bei den Printmedien eingehen, oder bei den öffentlichen Sendern von SRF: In kürzester Zeit wird über soziale Medien oder über Parteisekretariate orchestriert und gesagt: Macht das!

Wie gehen Sie damit um? 
Indem wir mit den gleichen Mitteln operieren und ebenfalls nur einen Schlussbericht statt deren 220 schreiben. Wenn gleichlautende Beanstandungen eingehen, ist es legitim, für die Antwort ebenfalls nur einen Schlussbericht im gleichen Wortlaut zu verfassen.

Sie teilen sich den Job mit dem Mediendozenten Kurt Schöbi. Macht das die Sache komplizierter? 
Es vereinfacht sie. Erstens können wir uns die Aufgabe zeitlich aufteilen. Zweitens hat jeder von uns ein Gegenüber. Bei einer Schlichtungsstelle ist nicht immer von Anfang an alles ganz klar. Da gibt es Fragen, bei denen man froh ist, sie mit einem Pendant spiegeln und Gedanken austauschen zu können. Drittens ist es auch menschlich wertvoll, wenn, wie es bei uns der Fall ist, die Chemie stimmt.

Sie kannten einander vorher nicht? 
Nein, aber wir ergänzen uns gut. Ich habe den «Nachteil», dass man mich mehrheitlich schon kannte, und Kurt hat den «Nachteil», dass man ihn weniger kannte. Damit müssen beide umgehen können, was sehr gut gelingt. Ausserdem ist Kurt weniger extrovertiert als ich und hat andere Interessen. Zum Beispiel faszinieren ihn technische Fragen mehr als mich. So decken wir das ganze Portefeuille ab, und zwar nicht, weil wir müssten, sondern eben, weil unsere Interessen unterschiedlich sind.

Jobsharing bringt zusätzlichen Koordinationsaufwand. Sie haben je ein 40-Prozent-Pensum. Reicht das? 
Wir arbeiten beide deutlich mehr als 40 Prozent, aber nicht etwa, weil wir uns abstimmen müssten. Es gibt vielmehr sehr viele Beanstandungen, was in Zeiten von Social Media nicht erstaunt. Wenn das SRF Online-Texte zu Sendungen produziert, die regelmässig geändert, ergänzt oder korrigiert werden, dann werden Textstellen beanstandet, die schon überholt sind. Es stellt sich auch die Frage, ob wir für Tweets zuständig sind, die SRF absetzt. Denn auch auf solche gehen Beanstandungen ein.

Wie gehen Sie damit um? 
Die wenigen, die wir bisher hatten, haben wir behandelt. Aber die Grundsatzfrage, ob die Ombudsstelle auch für Nachrichten zuständig ist, die über die Sozialen Medien verbreitet werden, wird die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen früher oder später beurteilen müssen.

Roger Blum hat vor vier Jahren noch mit einem 40-Prozent-Pensum begonnen. Inzwischen ist es das Doppelte. Wieviel würde es brauchen? 
Momentan deutlich mehr, wobei ich sagen muss: Wir hatten Corona, dazu kam die Rassismus-Arena, im September folgen fünf mehr oder weniger umstrittene Abstimmungsvorlagen und im November zwei Volksinitiativen, die auch sehr viele Beanstandungen generieren werden. Momentan sind wir beide mindestens drei Tage pro Woche mit der Ombudsstelle beschäftigt, das wären also 120 Prozent. Aber wenn wir ehrlich sind, ist es wahrscheinlich mehr. Auch die Geschäftsstelle, die zu 20 Prozent für die Ombudsstelle arbeitet, ist am Anschlag.

Sie sind die erste Ombudsfrau der SRG in der Deutschschweiz. Vor einem Jahr war Frauenstreik – ist jetzt alles gut? 
Alles gut ist, wenn niemand mehr darüber spricht. Mit anderen Worten: Es ist nicht alles gut. Aber es ist selbstverständlicher geworden. Bis vor kurzem ist niemandem aufgefallen, dass eine Runde nur aus Männern zusammengesetzt ist. Das hat sich geändert, jetzt fällt es wirklich auf. Man denkt sogar präventiv darüber nach, denn man hat erkannt: Es kommt einfach zu besseren Resultaten, wenn man der Diversität mehr Achtung schenkt. Wenn es um die Besetzung von Kaderstellen in der Wirtschaft geht, heisst es allerdings nach wie vor: Wir wollen die kompetentesten. Das ärgert mich jeweils.

Weil es impliziert, dass Frauen weniger kompetent sind? 
Das lasse ich einfach nicht mehr gelten – man muss heute etwas breiter denken! Es gibt in praktisch allen Positionen genug qualifizierte, kompetente Frauen. Anderseits soll man auch nicht übertreiben: Manchmal reiten Frauenorganisationen ein bisschen zu ausgeprägt und fast verbissen darauf herum.

Vor 20 Jahren waren Sie als Chefredaktorin des «Tages-Anzeigers» die erste Frau an der Spitze einer grossen Schweizer Publikumszeitung. Würden Sie den Job heute noch machen wollen?  
Nein. Es ist zwar nicht so, dass der Journalismus früher in jeder Beziehung besser gewesen wäre, einiges ist heute besser. Die inhaltliche Debatte allerdings, die ich leidenschaftlich geführt hatte, kann nicht mehr so intensiv stattfinden – da mache ich jede Wette. Als ich bei der NZZ anfing, betreute jede Redaktorin, jeder Redaktor maximal drei Themen. Das war ein Paradies! Zwar hatte es nicht nur Vorteile, indem die Berichterstattung etwas einseitig ausfiel. Heute ist man personell unterdotiert.

Sie sind heute in erster Linie Unternehmerin und Inhaberin der Agentur speakers.ch, die hochkarätige Referentinnen und Moderatoren vermittelt. Stossen Sie als Frau auf besonders viel Widerstand? 
Im ersten Moment löse ich nach wie vor bei vielen den Reflex aus: Das ist die Assistentin. Dann fange ich an zu sprechen, und der Kunde merkt: Aha, die versteht ja inhaltlich etwas von der Sache. Dann habe ich als Frau den Vorteil, schneller ernst genommen zu werden als ein Mann.

Warum?  
Es ist nicht alltäglich. Nehmen wir das Beispiel, der Deutsche Bundestag oder eine österreichische Universität wolle Moritz Leuenberger engagieren. Dass sie nicht sofort mit ihm ins Gespräch kommen, sondern zuerst mit der vorgelagerten Esther Girsberger, finden sie ziemlich schnell interessant. Ausserdem habe ich gerade in der Corona-Zeit gemerkt, dass Beziehungspflege – mein Geschäft läuft ja über Beziehungen – mit uns Frauen einfacher ist.

Woran liegt das? 
Weil wir mit mehr Emotionen ans Werk gehen. Das ist zwar ein Klischee, aber eben nicht nur. Wir kennen den Kunden und sind ihm gegenüber ehrlich und transparent. Wenn wir einen Referenten für einen bestimmten Anlass eher nicht empfehlen würden, sagen wir das offen. Das zahlt sich dann in einer Krise wie Corona aus, die für uns natürlich verheerend war.

Hat Corona Sie an den Rand des Ruins gebracht? 
Das nicht, weil ich immer eine vorsichtige Unternehmerin war. Ich habe zwar nie mit einer Pandemie gerechnet, seit ich 2014 die Agentur übernommen hatte. Dennoch stellte ich nie zusätzliches Personal ein, auch wenn wir mit der festen Mitarbeiterin in Zürich und der Mitarbeiterin auf Auftragsbasis in der Romandie ab und zu an den Anschlag kamen. Wir haben tiefe Fixkosten. Zum Glück, denn ich rechne damit, dass das Veranstaltungsbusiness frühestens kommenden Frühling wieder so in Schwung kommen wird wie vor Corona. Falls überhaupt.

Dank Corona verbrachten Sie «übermässig viele Stunden» mit Ihren beiden Teenager-Söhnen, wie Sie in einer Kolumne verrieten. Sind Sie dem Virus dankbar?  
Nein, dankbar bin ich dem Virus schon nur wegen der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen nicht. Mein Mann war zu dieser Zeit im Wallis beruflich engagiert und nur übers Wochenende in Zürich. Ich glaube, im Namen aller sprechen zu können: Die gemeinsame Zeit haben alle genossen. Wir sind aber privilegiert, denn wir haben viel Platz, einen Garten und leben nahe beim Wald.

Wie sieht es mit Ihrem Vorsatz aus, Mass zu halten: Haben Sie es bisher geschafft? 
Ja, tatsächlich. Vor Corona war ich jeden Abend unterwegs, hatte zu viele Sitzungen und meinte, das müsse so sein. Das mache ich nicht mehr und werde es wohl auch nie mehr tun. Ich habe gemerkt: Es braucht es nicht.

Esther Girsberger leitet seit 1. April zusammen mit dem Mediendozenten Kurt Schöbi (63) die Ombudsstelle der Deutschschweizer SRG. Die 59-jährige promovierte Juristin war lange Jahre Journalistin. Heute ist sie selbstständige Moderatorin, Kolumnistin und Geschäftsführerin der eigenen Agentur speakers.ch AG. Die passionierte Geigerin und Taucherin wohnt mit ihrem Mann und den beiden Söhnen (15 und 17) in Zürich.

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