«Es war schon ein steiler Einstieg»
Martin Tschirren verrät, wie er als neuer Chef des Bundesamtes für Wohnungswesen ins kalte Corona-Wasser geworfen wurde – und warum er nicht unterging.
Martin Tschirren verrät, wie er als neuer Chef des Bundesamtes für Wohnungswesen ins kalte Corona-Wasser geworfen wurde – und warum er nicht unterging.
Als frischgebackener Chef des zuständigen Bundesamts musste Martin Tschirren Innerhalb kurzer Zeit eine Corona-Lösung für die Zügeltermine finden. (Bild: ZVG)
Mitten in der Corona-Krise im März haben Sie im Bundesamt für Wohnungswesen BWO das Ruder übernommen. Ein Sprung ins eiskalte Wasser?
Es war schon ein steiler Einstieg. Begonnen habe ich am Montag, dem 16. März. Tagsüber war alles noch einigermassen normal. Am Abend verkündete der Bundesrat den Lockdown, und vom Dienstag an operierte ich im Krisenmodus. Die ersten paar Wochen waren schon etwas wild und chaotisch. Ich kam von aussen und Vieles war neu – Abläufe und Prozesse ebenso wie das Team. Und als Mietrechtsspezialist konnte ich mich auch nicht gerade bezeichnen.
Was haben Sie getan, um nicht unterzugehen?
Schwimmen! Im Ernst: Ich habe versucht, die Arbeit im Amt möglichst schnell und gut zu organisieren. Sonst konnte ich mich auf meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlassen, was gut funktioniert hat. Und ich habe nicht aufgehört, Fragen zu stellen. Für mich war es zugleich eine Chance: In kürzester Zeit habe ich sehr viel gelernt und war nicht nur inhaltlich aufdatiert, sondern habe auch rasch die nötigen Kontakte mit den Spitzen der Mieter-, Hauseigentümer- und Immobilienverbände geknüpft.
Keine zwei Wochen nach Amtsantritt standen Sie bereits im Rampenlicht, weil der 31. März ein wichtiger Umzugstermin ist und sich viele Menschen fragten, ob sie überhaupt zügeln dürfen. War das besonders anspruchsvoll?
Ja, die Geschichte mit den Umzügen hatte es in sich. Es gab unterschiedliche Einschätzungen, die wir intensiv diskutierten. Am Schluss war es ein Abwägen: Welche Vorgabe richtet am wenigsten Schaden an und lässt sich am einfachsten kommunizieren? Wichtig war auch, dass die Branche glaubhaft darlegen konnte, dass man unter Einhaltung der BAG-Regeln zügeln und Wohnungsübergaben organisieren könne, ohne sich zu begegnen. Im Nachhinein hat sich bestätigt, dass der Entscheid richtig war. Die weitaus meisten Umzüge konnten gemäss den Meldungen der Immobilienverwaltungen termingerecht durchgeführt werden.
Im Volk wurde das aber nicht so verstanden?
Ich bekam auch persönlich einige kritische Mails. Das ging aber ziemlich rasch vorüber. Geregelt wurde die Umzugs-Frage in der Covid-19-Verordnung «Miete und Pacht», die vom Bundesrat am 27. März beschlossen wurde. Nach einer Woche war das Thema vom Tisch.
Gab es Momente, in denen Sie dachten, Sie würden es nicht schaffen und scheitern?
Ja, solche Momente gab es. Am Vorabend des 27. März zum Beispiel, an dem der Bundesrat die Verordnung verabschieden wollte. Da hing es einen Moment lang am seidenen Faden, ob sie überhaupt rechtzeitig in den Bundesrat gebracht werden könne. Da waren wir nicht sicher, ob wir die Übersetzungen in alle drei Landessprachen rechtzeitig schaffen und einige weitere formale Vorgaben erfüllen würden. Generell verspürte ich in diesen Tagen einen grossen Erwartungsdruck, rasch Lösungen zu bringen.
Was würden Sie im Rückblick anders machen?
Einiges schon, doch nicht alles. Nach den Erfahrungen der letzten Wochen will ich das Krisenmanagement unseres Amtes neu organisieren. Denn wir haben zwar funktioniert wie mit einem Krisenstab, hatten aber formell keinen. Gleichzeitig war das BWO durch die Corona-Krise zwar stark gefordert – es war für uns wie für alle beteiligten Ämter ein Parforceritt –, aber es hat sich auch als sehr leistungsfähig erwiesen. Wir konnten innerhalb von Nullkommanichts eine Notverordnung aus dem Boden stampfen, die nicht nur die Umzüge regelte, sondern auch die Frist für Zahlungsrückstände von 30 auf 90 Tage verlängerte. Für Mieter und Mieterinnen von Geschäftsliegenschaften war das wichtig, denn es verschaffte ihnen mehr Luft, damit sie nicht gleich mit einer Kündigung rechnen mussten.
Das Parlament ging inzwischen weiter und hat den Mietern 60 Prozent der Miete für die Dauer der behördlichen Schliessung erlassen. Wie setzen Sie das in einem Gesetz um?
Die Umsetzung des Motionstexts ist nicht ganz einfach, es gibt verschiedene gesetzestechnische und politische Fragen, die uns Kopfzerbrechen bereiten. Soll man die Liste der betroffenen Geschäfte und Einrichtungen im Gesetz eindeutig definieren oder kann man davon ausgehen, dass dies klar ist? Können wir wirklich alle, die sich unabhängig vom Gesetz auf eine Mietzinssenkung geeinigt haben, von der 40/60-Regel ausnehmen? Auch zeitlich ist es eine Herausforderung. Für den Juli ist eine stark verkürzte Vernehmlassung geplant, damit der Bundesrat im September die Botschaft ans Parlament verabschieden kann. Auch alle übrigen Fristen werden um mindestens die Hälfte verkürzt.
In den letzten Jahren war das Bundesamt für Wohnungswesen meist nur in den Schlagzeilen, wenn dessen Abschaffung gefordert wurde, wie zuletzt von Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann. Hat die Corona-Krise bewiesen, dass es das BWO braucht?
Die letzten Wochen haben tatsächlich gezeigt, dass plötzlich unerwartete Themen wie die Geschäftsmieten in den Fokus geraten können, die man zuvor gar nicht auf dem Radar hatte. Deshalb braucht der Bund eine Institution, die sich im Mietrecht auskennt und die Vorschläge liefern kann. Verschiedene Stimmen haben mir bestätigt, dass das BWO in dieser Situation rasch und kompetent agiert hat.
Warum muss der Bund Wohnungspolitik betreiben und überlässt das nicht den Kantonen und Gemeinden – oder dem Markt, wie bürgerliche Politiker jeweils postulieren?
Die Bundesverfassung gibt dem Bund die Kompetenz, den Wohnungsbau und den Erwerb von Wohneigentum zu fördern, aber auch die Organisationen des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Und sie hält ausdrücklich fest, dass auf die Interessen von Familien, Betagten, Bedürftigen und Behinderten zu achten sei – jener Gruppen, denen der Markt nicht überall genügend Wohnraum zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung stellt. Deshalb braucht es den Bund, ergänzend zu den Kantonen, Städten und Gemeinden. Und da kommt noch etwas hinzu.
Woran denken Sie?
Wohnen ist ein Thema, das uns alle angeht. Und ich bin überzeugt, dass sich das Wohnen in den nächsten Jahren verändern wird. Trends wie die demografische Entwicklung, der Klimawandel oder die Digitalisierung betreffen auch das Wohnen. Hier müssen wir uns als BWO Gedanken machen und die Erkenntnisse den Kantonen, Städten und Gemeinden – aber auch der Branche – zur Verfügung stellen.
Viele vor allem ältere Menschen wohnen allein in riesigen, schlecht isolierten Wohnungen. Sie ziehen nicht weg, weil sie den Ortswechsel fürchten oder sich nichts anderes leisten können. Wie wollen Sie das ändern?
Die Wohnsituation von älteren Personen ist ein wichtiges Thema, an dem auch wir arbeiten. Erste Ansätze sind vorhanden. Die Umsetzung braucht Zeit, und es ist wichtig, dass man sich mit der Problematik auseinandersetzt und immer wieder die Wissenschaft und alle Beteiligten anzustossen versucht. Da kann das BWO eine Rolle spielen.
Nehmen Sie die nicht schon wahr?
Ja, das tun wir unter anderem mit unserem Forschungsprogramm. Wir haben vor, die Forschungsergebnisse kommunikativ besser auszuschöpfen. Eine spannende Frage, die wir an den Grenchner Wohntagen im Herbst erörtern möchten, ist das Verhältnis von Wohnen und Arbeiten. Wir hatten das schon vor der Pandemie vor. Jetzt, wo viele von uns im Home-Office gearbeitet haben, hat das Thema neue Bedeutung gewonnen. Die Qualität der eigenen Wohnung ist wichtiger geworden. Und es hat sich gezeigt, wie wichtig Nachbarschaften, aber auch Aufenthaltsräume rund um die Wohnung sind. So wurden etwa Pärke in Quartieren zeitweise zu einem erweiterten Wohnzimmer für viele.
Zurzeit wird das BWO verkleinert und muss Personal abbauen, weil es der Bundesrat vor zwei Jahren beschlossen hat. Müsste es nicht eher ausgebaut werden?
Die Vorgabe des Bundesrates gilt und diese setzen wir um. Ein Ausbau wäre höchstens dann ein Thema, wenn wir dauerhaft zusätzliche Aufgaben bekämen. Allerdings waren wir in den letzten Wochen ausserordentlich stark gefordert und werden es weiterhin bleiben.
Sind Ihre Arbeitstage nicht kürzer geworden?
Die Arbeitslast ist immer noch hoch, ich komme aber besser damit zurecht. Zu Beginn ging es darum, die akuten Probleme zu lösen, jetzt kann ich mich langsam auch den «normalen» Themen zuwenden.
Sie müssen nicht mehr schauen, dass Sie im nicht mehr so kalten Wasser untergehen, sondern können an Ihrem Schwimmstil feilen?
Sagen wir es so: Ich kann mich jetzt darauf konzentrieren, schneller vorwärts zu kommen.
Ende nächsten Jahres zieht Ihr Amt von Grenchen nach Bern um, wo Sie wohnen. Freuen Sie sich, dass Ihr Arbeitsweg kürzer wird?
Ja, aber vor allem sehe ich Vorteile für das Amt, dass wir mit dem Umzug näher zu den politischen Entscheid-Prozessen rücken.
Was tun Sie, wenn Sie sich nicht mit dem Wohnen beschäftigen?
Gerade in den letzten Wochen war mir wichtig, regelmässig mit dem Rennvelo eine Runde fahren zu können. Daneben spiele ich mit Begeisterung Klarinette in einem klassischen Orchester – zusammen mit meiner Frau, einer ausgebildeten Musikerin. Unser Juni-Konzert fiel allerdings Corona zum Opfer, ebenso wie die Konzert- und Theaterbesuche, die wir sonst regelmässig machen.
Wer spielt die erste, wer die zweite Klarinette?
Wir wechseln uns ab.
Martin Tschirren (48) studierte Geschichte und Theologie in Fribourg und den Niederlanden. Vor seiner Ernennung zum BWO-Direktor arbeitete er unter anderem im diplomatischen Dienst, in der Stromwirtschaft sowie die letzten elfeinhalb Jahre beim Schweizerischen Städteverband. Er lebt und musiziert mit seiner Frau in Bern.