«Die nächste Krise könnte völlig anders sein»

Die sicherheitspolitische Chefstrategin des Bundes Pälvi Pulli erklärt, warum Corona die bestehenden Risiken verschärft – und was sie von bürokratischen Pirouetten hält.

Seit zwei Jahren bekleidet Botschafterin Pälvi Pulli (49) als Chefin Sicherheitspolitik einen zentralen Posten im Verteidigungsdepartement VBS.

Die Sicherheitslage habe sich verschärft, warnten Sie bereits vor über einem Jahr. Führt die Corona-Krise zu einer weiteren Verschärfung?
Pälvi Pulli: Auf die bestehenden Konflikte und Bedrohungen trifft das tendenziell zu. Noch wissen wir aber nicht, was nur vorübergehend ist und was längerfristig bleiben wird. Deshalb haben wir den Zeitplan für die Publikation des nächsten Sicherheitspolitischen Berichts intern angepasst.

Sie können noch nicht sagen, wie die Erkenntnisse in die künftige sicherheitspolitische Strategie der Schweiz einfliessen werden?
Sicher ist, dass die Auswirkungen von Corona in den nächsten Sipol-Bericht einfliessen werden. Diese werden wir jedoch erst mit ein paar Monaten Abstand analysieren und in den Kontext einbetten können. Die Pandemie verdrängt jedenfalls die bisherigen Bedrohungen nicht, sondern verschärft sie höchstens. Die Bewältigung von Pandemien bleibt aber weiterhin primär Sache der Gesundheitsbehörden.

Der letzte Sipol-Bericht von 2016 ist vage. Da steht nur: «Eine schwere Pandemie kann jederzeit auftreten und gravierende Auswirkungen auf die Gesellschaft haben. Sie zählt damit ebenfalls zu den bedeutendsten Risiken für die Schweiz im Bereich Katastrophen und Notlagen.» Von der strategischen Rolle, die der Armee für diesen Fall zugedacht ist, steht nichts. Ein Fehler?
Ich glaube nicht. Dass die Pandemie eine der bedeutendsten Gefahren ist, die eintreten könnten, hat man schon länger erkannt. Das war auch Teil der Risikoplanung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz. Dass die Armee die zivilen Behörden wie bei allen anderen Katastrophen und Notlagen subsidiär unterstützt, war ebenfalls klar. Das hat sich nun bestätigt. Wir arbeiten in den Sicherheitspolitischen Berichten nicht mit konkreten Szenarien, sondern zeigen die wichtigsten Bedrohungen und Gefahren auf und prüfen, ob die Instrumente ausreichend darauf ausgerichtet sind oder ob gröberer Anpassungsbedarf besteht.

Wo ist ein solcher absehbar?
Anschauen werden wir bestimmt das Corona-Krisenmanagement des Bundes: Wie gut haben die Instrumente zusammengearbeitet, sind die Gremien richtig zusammengesetzt, wie hat die Zusammenarbeit mit den Kantonen funktioniert, inklusive Armeeeinsatz? Ein weiterer wichtiger Bereich ist die wirtschaftliche Landesversorgung, einschliesslich der Frage der Bevorratung von zentralen Gütern. Wir werden das alles zusammen mit den betroffenen Diensten analysieren und die Richtung aufzeigen, wo welche Anpassungen erfolgen sollten. Bei der Bewältigung der Pandemie spielt ja nicht nur die Armee eine wichtige Rolle, sondern unter anderem auch der Zivilschutz, der Zivildienst, die Aussenpolitik oder das Grenzwachtkorps. Es ist eine eigenartige Situation, in der praktisch alle sicherheitspolitischen Instrumente im Einsatz stehen.

Wann erscheint der nächste Sipol-Bericht?
Der Plan ist weiterhin, dass ihn der Bundesrat Ende 2021 verabschieden kann. Wir haben bereits mit den Arbeiten begonnen und haben jetzt wegen Corona eine leichte Verzögerung eingeplant. Die Pandemie bewegt bei den aktuellen Bedrohungen sehr viel – von der Machtpolitik über Terrorismus und Beeinflussungsoperationen bis zu Cyberattacken. Ab Sommer werden wir die Arbeiten wieder aufnehmen, um rückblickend zu analysieren, welche Auswirkungen die Pandemie wirklich hat. Im kommenden Frühling soll dann die Vorlage für die Vernehmlassung ausgearbeitet sein.

Welche Folgen hat die Krise für die Abstimmung über Air2030 im September?
In Bezug auf den Bedarf neuer Kampfflugzeuge hat sich nichts geändert, die bisherige Bedrohungspalette bleibt bestehen. Es gibt nicht nur die Pandemie. Die nächste Krise könnte völlig anders sein – ein Terroranschlag, eine Naturkatastrophe, eine Cyberattacke. Es könnten aber auch internationale Spannungen sein, in denen wir die Armee ganz anders als in der aktuellen Krise einsetzen müssten.

Corona hat gezeigt, dass die einzelnen Staaten ihre eigenen Interessen über alles stellen. Steigt damit auch das Konfliktpotenzial?
Man muss unterscheiden: In Konfliktherden wie Libyen, Irak oder Syrien ist die Entwicklung im Moment sicher negativ. Die westlichen Staaten sind mit sich selber absorbiert und setzen sich weniger für Konfliktlösungen ein. Bestimmte Staaten haben dafür etwas weniger Appetit, sich aus machtpolitischen Interessen in Konflikte einzumischen, was wiederum positiv ist. In fragilen Staaten mit schwachen Strukturen hat die Zentralmacht noch mehr Mühe, sich gegen irreguläre Kräfte wie Milizen oder den IS zu behaupten. Diese Gruppen profitieren. Weil die Sicherheitsbehörden mit anderem beschäftigt sind, werden sie weniger verfolgt. Sie können sich besser organisieren und dank der wirtschaftlichen Not einfacher rekrutieren. Anders verhält es sich mit Europa.

Welche Folgen erwarten Sie da?
Nationale Reflexe beim Ausbruch einer solchen Krise sind nachvollziehbar. Das macht jeder Staat, also hatten internationale Organisationen wie NATO oder EU nicht ihre besten Stunden. Sie haben aber schon einige Krisen überstanden. Sie brauchten zwar Vorlaufzeit, doch inzwischen haben sie sich wieder gefangen und treten gemeinsam mit recht konkreten Beiträgen auf. Ich glaube nicht, dass die nationalen Reflexe die Konstellation in Europa ändern werden. Mittelfristig dürften sie eher die Kooperation fördern.

Als Corona noch kaum ein Thema war, fand die Münchner Sicherheitskonferenz statt. Wie lauten die Erkenntnisse aus Schweizer Sicht?
Hauptthema waren die Rolle und die Einflussmöglichkeiten des Westens. Es zeigte sich, dass der Einfluss der EU und der grossen europäischen Staaten gegenüber China und den USA zumindest in ihrem eigenen Empfinden gesunken ist. Gleichzeitig versucht Russland, Spannungen anzufeuern, was auch nicht gerade die Kohäsion fördert. In München rangen die Europäer mit der Frage, wie sie die weltweite Sicherheitspolitik gestalten können. Aus Schweizer Perspektive sind wir daran interessiert, dass unsere unmittelbare Umgebung – und das sind die EU-Länder – handlungsfähig bleibt und nicht zum Tummelfeld von Grossmachtinteressen wird. Insofern beobachten wir mit Interesse, wie es der EU auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner gelingt, sicherheitspolitisch handlungsfähiger zu werden.

China scheint aus der Pandemie gestärkt hervorzugehen.
Das wissen wir heute noch nicht. Unser Eindruck war, dass man zuerst die Transparenz über die Geschehnisse in Wuhan vermissen liess. Dann hat man die Krise aber relativ gut gemeistert, wahrscheinlich nicht zuletzt dank des autoritären Regimes. Mit der Zeit wurde China in Europa als Helfer aktiv, offensichtlich auch, um das Image positiv zu beeinflussen. Mittlerweile sind mehrere Länder mit fragwürdigen Methoden tätig, um die Deutungshoheit zu erlangen. Die zum Teil relativ plumpen Beeinflussungsversuche haben das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit bestimmter Staaten nicht gefördert.

Kommen wir zu Ihnen. Wie müssen wir uns die Arbeit einer sicherheitspolitischen Chefstrategin vorstellen?
Erstens erarbeiten wir in Zusammenarbeit mit anderen Stellen von Bund und Kantonen die grossen sicherheitspolitischen Würfe beziehungsweise Grundlagenberichte: etwa zur Sicherheitspolitik, zur militärischen Friedensförderung sowie zur Alimentierung von Armee und Zivilschutz. Darüber hinaus, und das ist unsere zweite zentrale Aufgabe, begleiten wir beratend alle grossen Vorhaben des VBS wie Beschaffungen oder Weiterentwicklungen der Armee, inklusive Vorbereitung der politischen Entscheidungen für Armeeeinsätze. Dazu kommen drittens zahlreiche weitere Aufgaben wie die Koordination von internationalen Beziehungen im VBS, die Mitwirkung bei Exportkontrolle, Sicherheitsverbundübungen und die strategische Steuerung der bundeseigenen RUAG.

Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?
Strukturiert ist der Tag durch Rapporte mit der Departementsspitze und den grossen Ämtern des VBS, an denen wir Tagesaktualitäten besprechen oder aktuelle Geschäfte vorbereiten. Dazu kommen interdepartementale Sitzungen, an denen wir Inhalte unserer Berichte diskutieren, sowie Kommissionssitzungen, an die wir gelegentlich die Departementschefin begleiten. Dazwischen halte ich regelmässig auswärtige Referate, etwa bei den Lehrgängen der Armee, an internationalen Konferenzen oder vor den Milizverbänden. Und dann gibt es noch die internationale Dimension: Mit mehreren Staaten führe ich jährlich sicherheitspolitische Gespräche über die Bedrohungslage und unsere Zusammenarbeit.

Sie haben angekündigt, unkonventionelles Denken fördern zu wollen. Wie muss man sich das vorstellen?
Etwas komplett Verrücktes dürfen wir natürlich nicht machen. Mit meinen Mitarbeitenden nehmen wir die Sicherheitspolitik aber so wahr, dass wir durchaus auch breiter denken und Vorschläge machen, die nicht in den üblichen Bahnen laufen. Wir konsultieren beispielsweise Externe, aktuell etwa beim Bericht zur militärischen Friedensförderung.

Ist es ein Vorteil oder Nachteil, dass Sie als erste Frau – und ohne Militärerfahrung – die sicherheitspolitische Strategie bestimmen?
Weder noch. Die Armee ist nur eines von insgesamt acht sicherheitspolitischen Instrumenten. Es ist zwar das grösste und teuerste, aber nur eines. Natürlich muss man verstehen, wie die Armee funktioniert, doch dieses Grundwissen kann man sich als Frau durchaus aneignen. Viel nötiger als direkte Militärerfahrung ist es in dieser Position, Zusammenhänge zu sehen, zu wissen, wie der Politapparat funktioniert, die Rolle der Kantone zu kennen, wie man zu einem Resultat kommen und etwas weiterentwickeln kann. Es braucht Augenmass für realistische Lösungen. Dazu muss man keinen Militärdienst geleistet haben. In meinem Team verfüge ich zudem über ausreichend militärtechnische Expertise. Hätte ich sie nicht, könnte ich Kollegen aus der Armee einbeziehen, deren Chef mit seinem Stab praktisch mein Büronachbar ist.

Wie finden Sie den Ausgleich zu Ihrem anspruchsvollen Job?
Indem ich Freunde und Familie treffe und viel und gerne lese, am liebsten politische Literatur, Zeitungen und Zeitschriften. Seit 20 Jahren tanze ich zudem Flamenco – das ist der totale Ausgleich, denn beim Üben mit schwierigen Choreographien muss man voll präsent sein. Auf Yoga möchte ich auch nicht verzichten.

Was ist Ihnen wichtig?
Dass man sich im Job auf die Substanz konzentriert und darauf, Geschäfte vorwärts zu bringen. Für bürokratische Pirouetten habe ich wenig Geduld. Ich muss mich zwar mit den üblichen Verwaltungsabläufen abfinden, aber ich halte die Auseinandersetzung mit der Materie für wichtiger. Im Bereich Sicherheitspolitik funktionieren wir vielleicht etwas anders als das Militär, mit dem wir ja sehr viel zu tun haben. Als grosse Organisation muss die Armee strukturiert und nach einem bestimmten Ablauf vorgehen. Wenn man an der Scharnierstelle zur Politik operiert, braucht es oft auch Pragmatismus, Kompromissbereitschaft und ein Auge für das politisch Machbare. Damit kann man etwas erreichen, und darum ist mir das wichtig.

Seit zwei Jahren bekleidet Botschafterin Pälvi Pulli (49) als Chefin Sicherheitspolitik einen zentralen Posten im Verteidigungsdepartement VBS. Die gebürtige Finnin kam erst als 20-Jährige in die Schweiz, wo sie in Neuenburg Geschichte, Englisch und Politikwissenschaften studierte. Vor ihrer Ernennung war Pulli, die mit ihrem Partner im zürcherischen Effretikon lebt, in verschiedenen sicherheitspolitischen Funktionen im EJPD und im VBS tätig, zuletzt als stellvertretende Chefin der Hauptabteilung Internationale Polizeikooperation im Bundesamt für Polizei.

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