«Wie kreativ ist ein System, das unter höchstem Druck steht?»

Einen beschleunigten Strukturwandel, im Guten wie im Schlechten, erwartet Zukunftsforscherin Karin Frick. Dank der Corona-Krise würden sich Angebote wie 3-D-Drucker oder die Telemedizin durchsetzen. Ohne Verluste werde es aber nicht abgehen.

Karin Frick, die am Gottlieb Duttweiler Institut über Zukunftsfragen forscht, sieht in Folgen der Corona-Krise nicht nur negative Aspekte. (Bild: GDI)

Karin Frick, können Sie bereits abschätzen, welche Folgen die Corona-Krise auf Wirtschaft und Gesellschaft haben wird, wenn sie dann einmal überwunden ist?
Karin Frick:
 Dazu fehlen die Erfahrungen. Die weitaus meisten von uns – mal abgesehen von den über 80-Jährigen, die in ihrer Kindheit während des Krieges ähnliche Erfahrungen gemacht haben mögen, – haben noch nie erlebt, dass in der Schweiz der Notstand ausgerufen wird. Wohl gab es einschneidende Ereignisse wie 9/11 oder das Swissair-Grounding. Für einzelne Menschen oder für die nationale Identität waren das traumatische Erfahrungen. Der Alltag aber war nie dermassen betroffen wie jetzt. Weil wir nicht krisenerprobt sind, ist es schwierig, Prognosen für längerfristige Veränderungen abzugeben.

Wagen Sie trotzdem eine?
Sicher ist es ein Ereignis, das wir alle nicht vergessen werden. Auch die Kinder, die heute ja mit dem Bildschirm aufwachsen, werden sich ihr Leben lang daran erinnern, wie der Unterricht über den Bildschirm von einem Tag auf den anderen zur Regel wurde. Das sind prägende Erlebnisse. Aber vorher stellen sich andere Fragen.

Nämlich?
Auf den ersten Blick haben wir es mit einer Gesundheitsbedrohung zu tun, die all jene unter uns, die nicht zu den Risikogruppen gehören – und das sind die meisten –, relativ entspannt zur Kenntnis nehmen können. Schliesslich ist das Risiko, an Covid-19 zu sterben, für Leute unter 65 sehr gering. Erst danach wird uns die zweite Bedrohung bewusst, nämlich die durch die Pandemie ausgelöste Wirtschaftskrise. Dann kommt die Existenzangst dazu. Diese wird in einer zweiten Phase noch stärker werden.

Wann wird das eintreten?
Sobald die dramatischen Folgen des wirtschaftlichen Drucks ins Bewusstsein gelangen. Des Drucks, der entsteht, wenn das System zusammenbricht. Wenn nicht nur eine Bank oder eine Airline gerettet werden muss, sondern das ganze Wirtschaftssystem. Noch erschreckt der totale Wirtschaftskollaps die Leute aber nicht so sehr wie das Virus.

Reichen die vom Bundesrat angekündigten Massnahmen, um das Schlimmste zu verhindern?
Das hängt ganz davon ab, wie lange die Krise andauert. Wenn sie in ein paar Monaten vorüber ist, könnten einige Dutzend Milliarden Franken reichen. Wenn es aber länger geht und kleine, unabhängige Betriebe zum Beispiel im Einzelhandel und in der Gastronomie ihre Liquidität nicht mehr sicherstellen können, beschleunigt sich die Negativspirale: Betriebe gehen in Konkurs, viele Menschen verlieren ihren Job, der Konsum geht zurück, noch mehr Betriebe verschwinden.

Wird damit der wirtschaftliche Strukturwandel beschleunigt – der Umstieg auf den Versandhandel?
Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass das schnell gehen kann. Nachdem mein Partner sein Bein gebrochen hatte, bestellten wir wöchentlich bei LeShop und haben diese Gewohnheit bis heute beibehalten. Wer das bisher noch nicht gemacht hat, merkt jetzt, wie einfach und bequem es ist. Umgekehrt werden viele kleine Läden, die jetzt schon unter Druck sind, es schwer haben, sich wieder zu etablieren, wenn noch mehr Menschen die Annehmlichkeiten des Online-Einkaufs erfahren haben.

Ein Schreckensszenario für Boutiquen und kleine Lebensmittelhändler?
Für Betriebe in Branchen wie dem Textilhandel oder der Gastronomie, die kaum über Polster verfügen, kann es tatsächlich den Todesstoss bedeuten. Umgekehrt wird es vielen Entwicklungen helfen. Nehmen wir zum Beispiel die 3-D-Drucker, die bisher nicht richtig zum Fliegen kamen. Jetzt ist es in Italien gelungen, damit rasch Ersatzteile für Beatmungsgeräte herzustellen und auf diese Weise Leben zu retten. Solche guten Nachrichten sollten wir sammeln.

Haben Sie schon einige?
Abgesehen davon, dass die Luft besser ist, lernen wir schneller in der Krise. Zum Beispiel in Sachen Homeoffice: Man spricht schon lange vom Umverteilen des Pendlerverkehrs. Jetzt sehen wir, dass die Welt gleich gut funktioniert, wenn nicht alle gleichzeitig im Zug sitzen. Wir merken, dass wir uns anders organisieren können. Künftig können die Menschen zuerst in aller Ruhe ihre Arbeit zuhause erledigen, erst für das Meeting um 11 Uhr ins Büro kommen und danach wieder nach Hause gehen. Wenn man schnell und schmerzhaft lernt, können sich neue Routinen etablieren, für die es sonst viele Kampagnen gebraucht hätte.

Das klingt tatsächlich nach einer guten Nachricht.
Ja, und es ist bei weitem nicht die einzige. Nehmen wir die Telemedizin. Man merkt, dass man für eine Erstkonsultation beim Arzt nicht unbedingt zuerst noch eine halbe Stunde zur Praxis fahren und dort eine weitere halbe Stunde im Wartezimmer ausharren muss, sondern dass man das ebenso gut telefonisch oder per Chat erledigen kann. Wenn immer mehr Leute herausfinden, dass das eigentlich viel praktischer ist als der althergebrachte Praxisbesuch, wird es zum neuen Standard.

Womit ganz nebenbei die Kostenexplosion im Gesundheitswesen gebremst wird?
Richtig. Die Angebote sind ja schon da. Nur musste man bisher die Leute dazu motivieren, sie zu nutzen. Die persönlichen Kosten könnten übrigens ganz generell sinken. Letztlich erleben wir einen harten Entzug unserer Konsumgewohnheiten, die wir uns aus Zeitmangel trotz Mehrkosten angeeignet haben – von Fertiggerichten bis zu Personaltrainern. Wenn wir mehr Freizeit haben und mehr selber machen, müssen wir weniger Dinge und Dienstleistungen kaufen. Wir erfahren jetzt, dass die Lebensqualität mit weniger Konsum gar nicht zu sinken braucht. Und noch zur Gesundheit: Vielleicht entdecken einige Leute, wie gut es tut, im Wald spazieren zu gehen, wenn ihnen die Decke auf den Kopf fällt. Oder sie gehen joggen, solange sie das noch dürfen.

Sie meinen also, die Corona-Krise werde den Strukturwandel in jeder Hinsicht beschleunigen – negativ ebenso wie positiv?
Ja, das fasst es gut zusammen. Es wird nicht ohne Verluste gehen, aber auch vielen vorteilhaften Trends Auftrieb geben. Wobei wir aufpassen müssen: Im Moment entwickeln die Leute noch kreative Ideen. Wenn das System aber extrem unter Druck gerät, wenn wir um unsere Existenz fürchten, dann kommt es zur Schockstarre. Noch stecken wir am Anfang. Die Frage lautet: Wie kreativ ist ein System, das unter höchstem Druck steht?

Gibt es dazu schon Hinweise aus Italien?
Dort zeigt die hohe Zahl der Todesfälle das grosse Leid, das soziale Distanzierung zur Folge hat. In einer Bedrohungssituation suchen die Menschen eigentlich Nähe, denn jemanden in die Arme zu nehmen bietet Trost. Das ist jetzt aber verboten. Das ist besonders hart für jene, die ihre schwerkranken Angehörigen nicht besuchen dürfen. Social Distancing ist eine Art Isolationshaft, und diese hat nachweisbar schwerwiegende Folgen für die Gesundheit: der Hormonhaushalt wird gestört, Organfunktionen werden beeinträchtigt, ebenso die Wahrnehmung und kognitive Leistungsfähigkeit, hinzu kommen Konzentrationsschwierigkeiten und Depressionen. Da bin ich aber nicht die Expertin. Mir ist wichtig, dass strukturelle Umbrüche auch eine Chance bieten.

Nur für Branchen, die sonst länger auf ihren Durchbruch warten müssten?
Auch persönlich. Wenn ich eine Perspektive habe, ein Ziel, das ich erreichen will, wird es einfacher durchzuhalten. Ausserdem können viele Menschen die operative Hektik aus dem Tag nehmen. Sie finden endlich Zeit für Projekte, die sie schon lange machen wollten.

Wie den Keller ausräumen?
Ja. Irgendwann ist das allerdings erledigt, und der Kleiderschrank ist auch irgendwann nach Marie Kondos Erkenntnissen neu organisiert. Dann kommt die Gelegenheit, sich Gedanken zu machen über Dinge, für die bisher die Zeit gefehlt hat. Forscher etwa sind nicht unglücklich, dass sie jetzt die Kapazität haben für Projekte, die sie schon lange mit sich im Kopf herumtragen.

Das funktioniert aber nur, solange man keine Kinder hat.
Richtig. Eltern, die sich jetzt um Kleinkinder kümmern müssen, haben keine zusätzliche Zeit. Auch Ärzte, Pflegende und das Personal im Lebensmittelhandel durchleben extrem hektische Zeiten. Menschen in Dienstleistungsberufen aber, die im Büro am Computer arbeiten, viele Meetings haben und beruflich viel reisen, können profitieren.

Sehen Sie weitere Auswirkungen der Krise?
Möglicherweise werden gewisse Sicherheitsmassnahmen bleiben. Ähnlich wie nach 9/11 die vielen Kontrollen und das Verbot von Flüssigkeiten im Flugverkehr, nur dass es diesmal die Gesundheit betrifft. Vielleicht werden in öffentlichen Toiletten künftig Desinfektionsmittel aufgestellt. Oder wir werden vor jeder Reise einen Gesundheits-Check machen müssen.

Und in der Berufswelt?
Gut möglich, dass gewisse Berufsgruppen wie Coiffeure und Kosmetikerinnen künftig immer Handschuhe tragen werden. Vor allem aber werden Menschen mit sichtbaren Erkältungssymptomen nicht mehr arbeiten gehen. Die galten ja bisher als Weicheier, und gerade in der Schweiz führte die hohe Arbeitsmoral bisher dazu, dass man ein Mittel nahm und arbeiten ging. Jetzt wird es heissen: Bleib besser daheim. Womit wohl auch die Erkältungen insgesamt abnehmen dürften.

Karin Frick (58) ist Trendforscherin am Gottlieb Duttweiler Institut, einem unabhängigen Think Tank in Wirtschaft, Gesellschaft und Konsum. Die in Liechtenstein aufgewachsene Ökonomin ist Leiterin Research und Mitglied der Geschäftsleitung der ältesten Denkfabrik der Schweiz. In ihrer Freizeit läuft die Mutter zweier Söhne (31 und 17 Jahre alt) Marathon.

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