«Theoretisch könnte man auch ein Rad patentieren lassen – nur wäre das nicht viel wert»

Catherine Chammartin, Direktorin des Eidgenössischen Instituts für Geistiges Eigentum IGE, über die Gründe, warum die Schweiz immer noch als innovativstes Land brilliert.

Laut Catherine Chammartin, Direktorin des IGE, widerspiegeln die Patentmeldungen die Industrielandschaft der Schweiz. (Bild: Remo Eisner)

Sie hütet das grösste Kapital unseres Landes: Catherine Chammartin ist Direktorin des Eidgenössischen Instituts für Geistiges Eigentum IGE, des Kompetenzzentrums des Bundes für Patente, Marken und Design. Im Interview verrät die Neuenburgerin, was Schweizerinnen und Schweizer besonders gut können – und weshalb Erfinderinnen und Erfinder gut beraten sind, die Katze nicht zu früh aus dem Sack zu lassen.

Seit Jahren gilt die Schweiz als innovativstes Land der Welt. Was machen wir besser als andere?
Catherine Chammartin: Es gibt kein Patentrezept. Besonders wichtig sind aber gute Bedingungen für Forschung und Entwicklung, eine Innovationspolitik, die auf Subsidiarität und Privatinitiative basiert, ein hohes Ausbildungsniveau, ein stabiles regulatorisches und institutionelles Umfeld und natürlich auch ein guter Schutz des geistigen Eigentums.

Es liegt also nicht einfach daran, dass die Schweiz über keine Rohstoffe verfügt?
Die Tatsache, dass die Schweiz rohstoffarm ist, führte dazu, dass sie sich auf andere Stärken fokussieren musste. Als kleines, mehrsprachiges Land haben wir zudem eine offene Wirtschaft mit regem Austausch mit dem Ausland. Das fördert ebenfalls Innovationen.

In welchen Bereichen melden wir die meisten Patente an?
Die Patentanmeldungen widerspiegeln die Industrielandschaft der Schweiz. Entsprechend breit melden Schweizer Firmen Patente an. Das gilt für traditionell starke Branchen wie Uhren, Elektrotechnik, Maschinenbau oder Pharma ebenso wie für neuere Bereiche wie Biotechnologie, Medizintechnik oder Computertechnologie.

Gilt das auch für zukunftsgerichtete Branchen wie Fintech oder Robotik?
In der Robotik ist die Schweiz mit der ABB und den beiden ETHs sehr aktiv unterwegs, und auch Fintech ist in den letzten Jahren zunehmend zu einem wichtigen Thema geworden. Weniger stark ist unser Land etwa bei der künstlichen Intelligenz oder maschinellem Lernen. Diese Themen werden fast ausschliesslich von asiatischen und amerikanischen Firmen bearbeitet.

Wenn die Schweizerinnen und Schweizer so erfinderisch sind: Rennen Ihnen im Eidgenössischen Institut für Geistiges Eigentum (IGE) die Leute die Türe ein?
Von den über 120’000 Patenten, die in der Schweiz in Kraft sind, wurde nur ein kleiner Teil direkt bei uns zum Patentschutz eingereicht. Die meisten wurden beim Europäischen Patentamt mit Wirkung für die Schweiz angemeldet. Dem IGE bleibt auch so genügend Arbeit: Für viele Menschen, die Fragen zum geistigen Eigentum haben, sind wir die erste Anlaufstelle; wir beantworten täglich rund 200 Anfragen. Zudem bieten wir begleitete Patentrecherchen an. Dabei nehmen wir eine Erfindung unter die Lupe und klären zum Beispiel ab, ob sie wirklich neu ist. Diese Dienstleistung wurde 2019 über 800 Mal genutzt. Schliesslich bieten wir weitere Recherchen auf kommerzieller Basis an.

Wie genau funktioniert die begleitete Patentrecherche, und was kostet sie?
Ein Patentexperte nimmt sich einen halben oder ganzen Tag Zeit und geht auf die spezifischen Fragen des Erfinders ein. Eine solche Recherche kann verschiedene Zwecke erfüllen, denn Patentliteratur enthält eine Fülle an Informationen. Zum Beispiel kann es darum gehen, abzuklären, ob eine Erfindung neu und erfinderisch ist und dementsprechend patentierbar ist. Oder man will wissen, ob man mit einem Produkt, das man auf den Markt bringen möchte, bestehende Patente verletzt. Recherchen in der Patentliteratur ermöglichen auch einen Überblick über ein bestimmtes Gebiet, zum Beispiel welche Konkurrenten in einem Markt tätig sind. Eine solche Recherche kostet den Kunden 300 Franken, was für uns nicht kostendeckend ist.

Nehmen wir mal an, ich hätte wie einst der Berner Liedermacher Mani Matter eine Uhr erfunden, die immer nach zwei Stunden stehen bleibt. Was muss ich tun, um sie vor Nachahmern zu schützen?
Wichtig ist, sich gleich nach der Erfindung eine Strategie zum Schutz des geistigen Eigentums zu überlegen. Und zwar eine, die zu Ihrem Produkt, zu Ihrem Unternehmen und zu Ihrer Branche passt. Bevor Sie Schutz beantragen, müssen Sie sich etwa fragen, ob sie bereit sind, Ihre Rechte im Verletzungsfall zu verteidigen. Diese Fragen müssen Sie sich sehr früh im Prozess stellen. Denn von dem Moment an, in dem Sie Ihre Erfindung öffentlich gemacht haben, können sie sie nicht mehr patentieren, da sie nicht mehr neu ist.

Also muss ich zuerst denken und erst danach vermarkten, oder, um bei Mani Matter zu bleiben, lauthals verkünden.
Genau. Wir im IGE erteilen Ihnen Auskunft über die Schutzrechte und die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen. In der begleiteten Recherche machen wir erste Abklärungen, ob Ihre Erfindung überhaupt patentierbar wäre. Die Frage, welche Strategie für Sie als Patentanmelderin die richtige ist, beantwortet nicht das IGE. Das muss der Patentanmelder selber in aller Regel mit einem Patentanwalt tun.

Kann ich alles patentieren lassen?
Es gibt Grenzen. Um eine Erfindung patentieren zu lassen, muss sie neu, erfinderisch und gewerblich anwendbar sein. Gewisse Bereiche wie der menschliche Körper sind zudem von der Patentierung ausgeschlossen.

In der Schweiz wird doch gar nicht geprüft, ob eine Erfindung wirklich neu oder erfinderisch ist?
Es stimmt, nach geltendem Recht werden Patentanmeldungen, die beim IGE eingereicht werden, nicht auf diese beiden Punkte geprüft. Theoretisch könnte man auch ein Rad patentieren lassen. So ein Patent wäre aber nicht viel wert, denn im Konfliktfall würde es das Gericht für null und nichtig erklären. Also hätten Sie am Ende nichts ausser Kosten. Es ist aber möglich, dass sich das in Zukunft ändern wird. Das Parlament hat in der vergangenen Session eine Motion von Thomas Hefti (19.3228) für die Einführung einer Vollprüfung überwiesen. Heute schon kann man mit unseren Dienstleistungen abklären lassen, ob eine Erfindung neu ist oder nicht.

Wenn sie es ist, kann ich sie weltweit schützen, also etwa auch in China?
Der Patentschutz ist territorial, kann aber auf andere Länder ausgedehnt werden. Die Frage, wo Sie Patentschutz beantragen wollen, müssen Sie bei der Erarbeitung ihrer Strategie beantworten. Das hängt davon ab, wo Sie tätig sind, wie gut ein Patent in einem bestimmten Land durchsetzbar ist sowie von den Kosten, da Sie in jedem Land Patentgebühren bezahlen müssen.

Wie hoch sind diese?
Die Gebühren für Patentschutz sind so gestaltet, dass die grössten Kosten nicht am Anfang entstehen, wenn das Risiko für den Anmelder noch hoch ist, sondern am Ende der Lebenszeit eines Patents. Das Erteilen eines Patents kostet 700 Franken. Nach einer gewissen Zeit folgen jährliche Jahresgebühren zwischen anfänglich 100 Franken bis maximal 960 Franken nach der Höchstdauer von 20 Jahren.

Die Höhe der Gebühren hängt nicht vom Ertrag der Erfindung ab?
Nein, es sind fixe Gebühren. Allerdings ist zu betonen, dass nicht die Gebühren der grösste Kostentreiber sind, sondern die Erarbeitung der Patentanmeldung, da es empfehlenswert ist, einen Patentanwalt beizuziehen.

Warum ist der Schutz des Geistigen Eigentums so wichtig für Innovationen?
Ideen sind frei. Sobald sie ausgesprochen sind, kann sie jeder nutzen. Der Schutz des Geistigen Eigentums bekämpft dieses Marktversagen, indem er befristete Monopolrechte einräumt und dadurch die Kommerzialisierung einer Idee erst ermöglicht. Daraus entsteht Wertschöpfung, die teilweise wieder in Forschung und Entwicklung investiert wird – also wiederum zu neuen Innovationen führt. Auch die Patentliteratur trägt zur Innovation bei, indem sie den aktuellen Stand der Technik öffentlich macht. Andere Forscher und Entwickler können sich davon inspirieren lassen und neue Innovationen schaffen. Der Schutz des Geistigen Eigentums beschränkt sich nicht auf Patente. Damit sich eine Innovation auf das Leben der Menschen auswirkt, muss sie kommerzialisiert werden. Dabei spielen Marken und Design eine wichtige Rolle.

Für das IGA ebenfalls?
In der Schweiz sind derzeit über 500’000 Marken in Kraft, und wir prüfen jährlich rund 30’000 Marken- und 1000 Designanmeldungen.

Man liest wenig von Ihrem Institut. Warum so diskret?
Wir fokussieren unsere Kommunikation auf jene, für die Geistiges Eigentum von Bedeutung ist. In diesen Kreisen sind wir und unsere Dienstleistungen sehr wohl bekannt. Ich bin immer wieder überrascht, wer alles schon mit dem IGE zu tun hatte, weil er eine Marke oder ein Patent angemeldet hat. Gerne weise ich aber auf unseren neuen Blog hin, der mit Geschichten die Welt der Marken, Patente, Designs und des Urheberrechts einem breiten Publikum näherbringt.

Catherine Chammartin stammt aus La Chaux-de-Fonds, dem Geburtsort zahlreicher Uhren-Innovationen. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie auf Kunsteisbahnen weit über den Neuenburger Jura hinaus: Als Mitglied der Eiskunstlauf-Nationalmannschaft nahm die Westschweizerin an nationalen und internationalen Wettbewerben teil. Mit 19 hängte sie die Schlittschuhe an den Nagel, blieb ihrem Sport aber noch über zehn Jahre lang als Preisrichterin treu.

Auslandaufenthalten in China und den USA folgte ein Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Fribourg. Bevor Catherine Chammartin vom Bundesrat an die Spitze des IGE gewählt wurde, leitete sie die Sektion Informationsaustausch und Individualbesteuerung im Staatssekretariat für internationale Finanzfragen SIF.

Die Mutter von zwei Kindern im Alter von 3 Jahren und fünf Monaten lebt mit ihrem Mann in Bern.

EU und Facebook steuern auf einen Konflikt zu

Mit Natotargeting verletzt der Tech-Gigant wohl Vorgaben des europäischen Datenschutzes.

Die Preise für Immobilien im Metaverse boomen – das sind die Gründe

Warum Leute bereit sind, für virtuelle Grundstücke viel Geld zu bezahlen

«Die neuen Technologien werden noch viel mehr können – aber nicht alles»

Der Digitalisierungsexperte Richard Susskind zu den Folgen auf die Arbeitswelt.

China steht bedeutender Entscheid bevor

Politikprofessor Hu Wei prognostiziert langwierige Probleme für die asiatische Supermacht und ein Ende der Schweizer Neutralität

Carla Del Ponte und ihr Einsatz für die Opfer von Kriegen und Gewalt

Das Buch erklärt, warum sie sich im Sommer 2017 als UNO-Sonderberichterstatterin in Syrien zurückzog.

«Geschämt habe ich mich für die Uniform nie»

Die höchste Schweizer Offizierin, Frau Divisionär Germaine Seewer, spürt am eigenen Leib, wie die Armee und ihre Angehörigen wegen des Ukrainekriegs stärker geschätzt werden. Für sie gibt es aber noch Luft nach oben.

Trends in der politischen Kommunikation

Warum Tiktok den Pace in fast allem vorgibt und weshalb «Dark Social» ein Problem sein könnte

AI lässt Brexit- und Trump-Kampagnen wie Anfänger dastehen

Neue Technologien sind in der Lage, personalisierte politische Werbung zu automatisieren.

Die neue Welt der Musikindustrie

2021 erzielte die Musikbranche einen Rekordumsatz von 25,9 Milliarden Dollar. Zu verdanken hat sie dies dem Streaming-Geschäft, das 65% der Einnahmen ausmacht.