(Quelle: FC St.Gallen Event AG)
Als langjähriger Sportmoderator und Präsident des FC St. Gallen sind Sie eine Person des öffentlichen Lebens. Sie müssen Kritik aushalten können. Wie reagieren Sie darauf?
Matthias Hüppi: Ich gehe direkt auf Menschen zu, das Feedback kommt unvermittelt retour. In der Fussball-Ostschweiz ist alles sehr unmittelbar. Gewinnen wir zwei Spiele nacheinander, machen wir alles richtig. Verlieren wir zwei Partien in Folge, wird sofort vieles hinterfragt. Dieses Auf und Ab entspricht der Volatilität des Fussballs. Im Verwaltungsrat haben wir viel Basisvertrauen geschaffen. Das spüre ich, wenn ich unterwegs bin. Natürlich gibt es auch einzelne Heckenschützen. Sie entladen ihren ganzen Ärger an mir. Aber ich wusste schon vor meinem Amtsantritt, dass ich im Fokus ihrer Kritik stehen werde, denn es war die Absicht der Aktionäre, eine Person als Präsidenten zu installieren, die weitherum bekannt ist.
Bundesräte werden in Berns Strassen nur selten angesprochen, der Respekt ist gross. Fehlt diese Rücksichtnahme in St. Gallen?
In den allermeisten Fällen werde ich in St. Gallen respektvoll angesprochen, aber sehr direkt. Das gehört zum Fussball. Das gefällt mir. Ich bin nicht der Typ, der die Spiele von der Loge herab verfolgt. Ich bin Teil der Ostschweizer Fussballbewegung. Deshalb gehe ich unter die Leute. Manchmal spaziere ich mit einem Bündel Tickets durch die Goliathgasse im Herzen der Stadt und verschenke diese Karten an die Bevölkerung. Gerade erst hielt ich eine Rede an der Diplomfeier der Lernenden am Kantonsspital St. Gallen. Am Schluss der Veranstaltung stand ich am Ausgang und verteilte 104 Tickets unter die erfolgreichen Absolventinnen und Absolventen.
Zurück zu den Heckenschützen: Mit welcher Taktik oder Strategie begegnen Sie den Kritikern?
Wenn ich nach einem geharnischten Mail sanft reagiere, statt aggressiv zurückzuschreiben, erschrecken die Leute oft. Ich lasse mich nicht provozieren und versuche, mindestens beim ersten Mal 2-3 Zeilen zu formulieren, um Dampf rauszunehmen. Das hat den Effekt, dass die einen verblüfft zurückschreiben, dass sie es denn nicht so gemeint hätten. Und die anderen sind immer die Gleichen, sie sind unbelehrbar. Auf ihre zum Teil respektlose Kritik reagiere ich nicht mehr. Ich habe weder beliebig Zeit zur Verfügung noch möchte ich unnötig Energie verschwenden.
Welche Eigenschaften aus der Zeit beim Schweizer Fernsehen konnten Sie ins Präsidium des FC St. Gallen mitnehmen?
Meinen grossen Erfahrungsschatz im Bereich Medien und Kommunikation. Ich kenne die Mechanismen der Journalisten. Und die Journalisten kennen mich. Wenn es die Lage erfordert, bemühe ich mich, Trainer und Spieler medial abzuschirmen und vor unliebsamen Überraschungen zu schützen. Kritik und Bewertungen gehören zum Geschäft – egal, ob sie fachlich kompetent sind oder nicht. Wenn ein Trainer sich nervt, weil er kritisiert worden ist, verpufft er nur unnötig Energie. Selbstverständlich lege ich Wert darauf, wie der FC St. Gallen in den Medien dargestellt wird. Aber unser Personal wird nicht aufgrund der veröffentlichten Meinung beurteilt.
Sie sind leidenschaftlicher Fan des FC St. Gallen, haben aber keine Erfahrung als Trainer oder Fussballer. Wie schaffen Sie es, sich abzugrenzen, wenn es um sportliche Fragen geht?
Wir arbeiten in einem Dreieck: Sportchef (Alain Sutter, die Red.), Trainer (Peter Zeidler), Präsident (Matthias Hüppi). Wir sind kritische Geister mit eigenen Ideen, Plänen und Überzeugungen. Aber letztlich wird zum Wohl der Organisation entschieden. Dieser Entscheid wird nach aussen kommuniziert; ihm müssen sich alle unterordnen, anders geht’s nicht. Das heisst aber nicht, dass im Vorfeld nicht intensiv debattiert wird. Am Schluss trägt der Verwaltungsrat die Verantwortung. Ich bin kein Hierarchiker, sondern jemand, der gerne zuhört, um dann hinzustehen und zu entscheiden. Im sportlichen Bereich bringe ich meine Sichtweise aus einer gewissen Distanz ein. Aber jeder muss wissen, was er kann und was er nicht kann respektive was er weiss und was er nicht weiss. Genau so funktionieren wir.
Sie verfügen über ein grosses Netzwerk. Was für weitere Kompetenzen konnten Sie als Quereinsteiger in die Organisation einbringen?
Dank meiner Bekanntheit fällt es uns schon etwas leichter, mögliche Sponsoren zu finden – die Leute glauben zu wissen, wer ich bin. Aber dann fängt die Knochenarbeit erst an. Niemand überschüttet uns mit Geld, nur weil ich Präsident des Vereins bin. Meine Moderationsfähigkeiten sind zudem auch in meiner neuen Rolle wertvoll. Etwas ist mir auch noch wichtig.
Sagen Sie es uns.
Im Fussballgeschäft mag es untypisch sein, aber wir haben einen vollkommen unabhängig agierenden Verwaltungsrat. Bei uns ist die Governance durchorganisiert, es herrscht totale Transparenz. Das Aktionariat lässt uns arbeiten. Die zehn Hauptaktionäre reden uns nicht drein.
Woher kommt Ihre Überzeugung, dass Transparenz von besonderer Bedeutung ist?
Als ich beim FC St. Gallen im Dezember 2017 angefangen habe, fand ich einen zerrissenen Klub vor. Die Ausgaben waren kontinuierlich angestiegen. Das Defizit belief sich auf einen siebenstelligen Betrag. Der Verein wäre in den nächsten zweieinhalb Jahren vermutlich in grosse Schwierigkeiten geraten. Wir haben die Altlasten auf dem Tisch. Aber das ist Vergangenheit. Es geht jetzt darum, aus langfristigen Verträgen herauszukommen und den Schaden zu minimieren. Ich hätte meinen Job beim FC St. Gallen niemals angetreten, wenn ich nicht Gleichgesinnte an meiner Seite gehabt hätte. Wir wollten der Klüngelwirtschaft ein Ende setzen, Vertrauen bilden, vernünftig wirtschaften und transparent auftreten. Ob unser Weg immer der richtige ist, wissen wir nicht. Der Weg zum Erfolg ist im Fussball schwierig zu planen. Es gibt nur einen Weg zum sicheren Misserfolg: wenn man es allen recht machen will. Wer bei jedem Windstoss umfällt, kommt nirgends mehr hin.
Es gibt in unserer Gesellschaft viele Menschen, die mit dem Gedanken spielen, in ihrem Leben nochmals etwas Neues zu wagen. Sie haben den Mut dazu gehabt. Wie hoch war das Risiko?
Es hat eine Menge persönlichen Mut gebraucht. Ich bewegte mich beim Fernsehen in einer gewissen Sicherheitszone – ich sage bewusst nicht Komfortzone. Ich habe viel und mit grosser Faszination gearbeitet. Ich war immer bereit, die Extrameile zu gehen. Ich nahm auch ein gewisses Risiko in Kauf, weil ich in den letzten 15 Jahren beim SRF stets befristete Verträge abschloss. Ich wollte alle zwei Jahre neu beurteilt werden und über eine weitere Zusammenarbeit diskutieren. Irgendwann stand ich vor meinem 60. Geburtstag und sagte zu meiner Frau: Wenn jetzt noch etwas käme, das mich ähnlich begeistert wie der Job beim SRF, würde ich es mir ernsthaft überlegen.
Dann kam der FC St. Gallen?
Ja, aber es hätte auch ein soziales Projekt sein können. Nach der Anfrage des FC St. Gallen habe ich mich mit Vertrauenspersonen aus dem Freundeskreis, der Fussballszene, den Medien und mit meiner Familie intensiv unterhalten, um danach eine Entscheidung zu treffen. Alle rieten mir einhellig: «Mach es! Aber sei vorsichtig, wenn du ins Haifischbecken steigst.» Heute kann ich sagen: Ich bin vorsichtig, auch wenn mir dieser Fisch keine Angst macht.
Als Sie beim FC St. Gallen das Präsidium übernahmen – wo sahen Sie das grösste Risiko?
Ich wusste nicht, wie der Verein finanziell dasteht. Wer möchte schon als Totengräber in die Geschichte eingehen? Deshalb wollte ich mich absichern und wissen, wer mit mir zusammen den Verwaltungsrat bildet. Die anderen Verwaltungsräte kannte ich bloss vom Namen her. Aber alle sagten: Wenn du dabei bist, bin ich es auch! Wir harmonierten von Anfang an so gut, als ob wir schon seit Jahren die dicksten Freunde wären. Wir vertrauen uns blind. Das Aktionariat bewies bei der Teamzusammenstellung ein gutes Näschen.
Wie haben Sie die richtigen Leute gefunden?
Ich habe ein gutes Gespür dafür entwickelt, schnell herauszufinden, ob jemand bereit ist, die Grundidee bedingungslos mitzutragen. Es braucht ein Commitment. In Gesprächen mit Vereinsexponenten habe ich in der Vergangenheit oft erlebt, dass sie mir bei der Trainerfrage anvertrauten, nicht für diese Lösung gestimmt zu haben. Dieses Verhalten ist inakzeptabel, der Scherbenhaufen geradezu vorprogrammiert. Bei uns im Verwaltungsrat sind wichtige Personalentscheide einstimmige Entscheidungen.
Sie bewegen sich nach dem grossen Umbruch innert kürzester Zeit in einem finanziell angespannten, emotionalen und schnelllebigen Umfeld. Jedes Wochenende müssen Resultate geliefert werden, um Ruhe zu bewahren. Wie schafft ihr es, eure Strategie durchzuziehen?
Mit der gegenseitigen Absicherung – und Unterstützung. Wir sind uns einig: Es beginnt niemand auszurufen, wenn es gerade mal nicht gut läuft. Mich hört nach einer Niederlage niemand ein lautes Wort reden. Ich bin nahe an der Mannschaft. Vor und nach dem Spiel bin ich bei den Spielern, sie sollen mich spüren. Im letzten Spiel der vergangenen Saison verpassten wir gegen den FC Zürich (1:1, die Red.) die direkte Qualifikation für die Europa League. Majeed Ashimeru vergab kurz vor Schluss aus bester Position. Hätten wir das Spiel gewonnen, bescherte uns dies Mehreinnahmen von vier Millionen Franken – alle finanziellen Probleme wären mit einem Schlag gelöst gewesen. Was denken Sie, wie aufgewühlt ich Ashimeru in der Kabine angetroffen habe? Er hatte Tränen in den Augen. In diesem Moment war ich nicht wütend auf ihn, nein, ich wollte ihn aufbauen. Wir haben die Europa-Qualifikation nicht im letzten Spiel vergeben. Und sind wir ehrlich: Mit einem dritten Platz wäre der FC St. Gallen zu gut klassiert gewesen.
Mit Blick auf das Change-Management beim FC St. Gallen – welche Tipps können Sie Führungskräften geben?
Standhaftigkeit ist einer der wichtigsten Pfeiler. Damit meine ich Klarheit, Mut und realitätsnahes Denken. Diese Eigenschaften ermöglichen es, auch gegen den Strom zu schwimmen und nicht umzukippen, wenn der Wind rauer wird. Unsere Tochter lebt mit unserer Enkelin an der französischen Atlantikküste. Dort habe ich einen grün-weissen Leuchtturm entdeckt und ihn fotografiert. Er dient mir als Symbol für den FC St. Gallen. Dieser Leuchtturm hat nämlich ein paar rostige Flecken. Wir übermalen diese Flecken aber nicht einfach, sondern wir versuchen, die Wände von innen auszubessern. Tatsachen kann man nicht mit Ignoranz zum Verschwinden bringen.
Sie sind ein emotionaler Mensch. Können Sie immer gelassen bleiben?
Ja, das kann ich, auch wenn ich manchmal über mich selbst staune. Es braucht aber viel Energie und Kraft. Die vergangene Saison hat mich durchgeschüttelt. Während eineinhalb Monaten wussten wir nicht, ob wir Dritter werden oder absteigen. Ich hatte ein paar schlaflose Nächte. Wären wir abgestiegen, wären wir grausam an die Kasse gekommen. Aber wir sagten uns: Wenn wir absteigen, dann steigen wir halt ab – und in der nächsten Saison sofort wieder auf. Wir mussten einen Plan haben. Von diesem Plan haben aber weder die Mannschaft noch der Trainer etwas erfahren. Zum Glück ist es nicht so weit gekommen.
In der Super League spielen zehn Teams um den Schweizer-Meister-Titel. Befürworten Sie die Zehnerliga – oder plädieren Sie für eine Aufstockung der Super League?
Ich finde die Zehnerliga langweilig, weil du viermal gegen den gleichen Gegner spielst. Irgendwann haben die Zuschauer die Begegnung Xamax – St. Gallen gesehen. Es stellt sich die Frage: Gibt es zwei bis vier zusätzliche Vereine, die über das wirtschaftliche Potenzial verfügen, um in der Super League zu bestehen? Ich meine, ja und denke an Lausanne, GC, Aarau und Winterthur. Mit einem geschickten Modus, der auf eine Final- und Abstiegsrunde hinausläuft, könnte man neuen Drive in die Meisterschaft bringen.
Der Europäische Verband (Uefa) plant, ab der Saison 2021/2022 unterhalb der Champions- und Europa League einen dritten Klubwettbewerb einzuführen. Besteht damit die Gefahr, dass eine attraktive Begegnung wie einst St. Gallen – Chelsea nicht mehr stattfinden wird?
Ich finde diese Idee nicht gut. Sie verwässert alles. Letztlich überfordert sie auch den Fussball-Konsumenten. Schon jetzt befinden wir uns in einem Grenzbereich. Wir können im Fernsehen jeden Tag Live-Fussball schauen. Gerade deswegen muss der Schweizer Fussball das Beste aus einer Nischenposition herausholen. Der FC St. Gallen kann nicht mit Manchester City mithalten, auch nicht mit Klubs aus dem vorderen Teil der Bundesliga – das wäre nicht realistisch. Wir müssen uns an den Klubs aus der zweiten Hälfte der Bundesliga orientieren. Am SC Freiburg etwa oder am FSV Mainz 05. Diese beiden Vereine leisten hervorragende und nachhaltige Arbeit. Sie haben ihre Stadien fast immer ausverkauft – egal, ob sie auf einem Relegationsplatz liegen oder nicht.
Sie erwähnen das Geschäftsmodell der beiden Bundesliga-Klubs SC Freiburg und FSV Mainz 05 lobend. Welchem Klub in der Schweiz attestieren Sie eine Vorreiterrolle?
Das hängt letztlich immer von den finanziellen Mitteln ab. Die Young Boys haben sich prächtig entwickelt und leisten unter Sportchef Christoph Spycher herausragende Arbeit. YB profitierte aber stets von den Zuschüssen der Investoren. YB ist trotz relativ teurer Spieler nicht von heute auf morgen zum Erfolg gekommen. Das Team musste gemeinsam wachsen. YB verfügte über die nötigen Mittel, um das Team zusammenzuhalten. Das hat mich sehr beeindruckt. Auch der FC Thun arbeitet mit bescheidenen finanziellen Mitteln ausgezeichnet. Mit Markus Lüthi (Präsident, die Red.), Andres Gerber (Sportchef) und Marc Schneider (Trainer) tausche ich mich regelmässig aus.
Wenn der FC St. Gallen nochmals Meister wird, wird Matthias Hüppi…
…mitfeiern (lacht). Ich würde mich aber primär für die anderen freuen. Ich gönnte es dem Publikum, den engagierten Mitarbeitern, den Spielern, dem Trainerstaff – und zuletzt ein wenig auch mir. Es gäbe eine einmalige Party, die nicht zu übertreffen wäre.