Vom chinesischen Hafen Fuzhou aus sollen Güter auf der Wasserseidenstrasse zum Teil bis nach Athen und Venedig verschifft werden. (Bild: Shutterstock)
Jüngst machte die Schweiz weltweit Schlagzeilen: Als erst zweites europäisches Land nach Italien unterstützt sie die Initiative «One Belt, One Road» der Chinesen. In Peking setzte Bundespräsident Ueli Maurer seine Unterschrift unter ein entsprechendes Memorandum. Die Reaktionen in der Welt waren gemischt, auch in der Schweiz gab es Kritik. Doch was steckt eigentlich hinter dem ambitionierten Projekt der Chinesen, die historische Seidenstrasse als neue Achse der Weltwirtschaft bis nach Europa zu erweitern?
Einer, der die weltwirtschaftlichen und geopolitischen Hintergründe kennt, ist Erwin Hofer. Er war von 2004 bis 2009 Botschafter in Moskau, verantwortlich für Russland, Kasachstan und Turkmenistan. Vor Ort erhielt er schon früh Anschauungsunterricht, wie die Chinesen vorgehen, wenn sie ihre Handelsbeziehungen im Interesse ihrer geostrategischen Vision aufbauen und nutzen wollen.
Sie waren lange Zeit als Schweizer Botschafter in Zentralasien tätig. Welche Bedeutung hat die Region für die Chinesen?
Erwin Hofer: Eine grosse. Das kann man klar und deutlich festhalten. Während meiner Arbeit in Zentralasien habe ich dies immer wieder gespürt, etwa als es um die Entwicklung der transsibirischen Eisenbahn ging. Allerdings sorgt etwas vermeintlich Neues immer gleich für grosse Aufregung. Man sollte nicht von der «neuen» Seidenstrasse sprechen. Denn die Seidenstrasse gibt es schon seit der Antike. Sie hat sich immer wieder verändert, je nach politischen und strategischen Verhältnissen. Es geht also nicht im eigentlichen Sinne um Wegweiser zur Seidenstrasse, sondern um möglichst effiziente Handelskorridore. China knüpft mit diesem Projekt an mehrere jahrhundertalten Korridore an. Ein wenig poetisch könnte man sagen: Peking belebt Marco Polos Wege neu.
In ihrem Vortrag an der Universität Zürich sagten Sie: «Die Seidenstrasse stellt zwar so etwas wie ‹die Mutter der Globalisierung› dar, aber trotzdem gibt es sie eigentlich gar nicht, diese Seidenstrasse.» Sie sei viel mehr als Netzwerk konzipiert als eine physische Handelsstrasse. Können Sie das näher erläutern?
Die Seidenstrasse ist beides: ein Netzwerk, aber auch eine physische Handelsroute. Sie ist ein Netzwerk aus Verbindungen, daher ist der Begriff «Netzwerk» treffender. Hinzu kommt: Das Netzwerk bildet somit eine Handelsstrasse, die aus terrestrischen, physischen, maritimen und digitalen Verbindungen besteht.
Zentralasien liegt näher bei China, erscheint auch stärker auf die Weltmacht ausgerichtet als wir hier in Europa. Stimmt diese Aussage?
Heute stimmt diese Aussage, aber Zentralasien muss man sich eher als einen Raum vorstellen, aus dem sich einst ein Grossreich entwickelt hatte und hierauf Russland unter den Zaren zu unterwerfen vermochte. Früher war die Dynamik eine ganz andere. China hatte die grosse Mauer gebaut, um sich vor Zentralasien und den Mongolen zu schützen. Zur damaligen Zeit war China eine eher statische Macht, während Russland sich aus der riesigen Ebene östlich des Urals heraus entwickelte. Dabei drang Moskau schrittweise nach Osten vor – bis zur Grenze Chinas und über die Beringstrasse nach Alaska. Diese Entwicklung führte dazu, dass die zentralasiatischen Staaten unter Lenin zu sowjetischen «Republiken» wurden. Man muss sich vor Augen halten: Noch anfangs des Zweiten Weltkriegs war China eine schwache Nation und Russland übermächtig. Heute hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt: China belegt den ersten Platz als Partner der zentralasiatischen Staaten. Diese finden dies im Grunde als sehr angenehm, da es ihnen erlaubt, das Verhältnis zu Russland ausgewogener zu gestalten. Sie hoffen jetzt darauf, dass sie sich mit der Seidenstrasse ein grosses Stück des Kuchens abschneiden können. Wichtig ist vielleicht auch noch darauf hinzuweisen, dass Zentralasien nicht die gleiche Schuldenabhängigkeit befürchten muss wie Afrika.
Wie wurde aus dem ursprünglich statischen und rückständigen China die so dynamische und selbstbewusste globale Wirtschaftsmacht?
Es ist tatsächlich überraschend, wie schnell sich in China Veränderungen abspielen. China hatte sich ursprünglich im 16. Jahrhundert abgekapselt und auf sich selbst konzentriert. Später erlitt es Demütigungen durch europäische Kolonialmächte, die sich etwa Hongkong und Macao aneigneten. Erst vor rund 30 Jahren – nach der Kulturrevolution – hat sich China wieder geöffnet und damit gestärkt. Und nun treibt die Partei diese rasante Entwicklung voran. In China wird diese Bewegung vor allem vom technologischen und wirtschaftlichen Führungsanspruch getrieben, weniger von territorialen Ansprüchen.
Gleichzeitig unterscheidet sich das Gesellschaftsbild in China von unserem in Europa sehr stark. Wie sehen Sie das?
Der Westen und China haben unterschiedliche gesellschaftliche Systeme, welche per se nicht kompatibel sind. Es gelten andere Regeln in den sozialen und politischen Standards. Es geht somit um die Frage der Vereinbarkeit verschiedener Werte. Ich denke, wir müssen pragmatisch auf eine «Koexistenz andersartiges System» hinarbeiten. Ich habe im Ausland in den Diensten der Eidgenossenschaft gelernt: «Die Welt ist, wie sie ist!»
Zeigen sich diese anderen Standards auch im Umgang mit der Digitalisierung?
Die Technik ist im Osten und im Westen die gleiche, der Wandel in der Technologie-Führerschaft jedoch ist neu. Viele chinesische Studenten begaben sich fürs Studium in die USA und wurden dort – etwas naiv – mit offenen Armen aufgenommen. Sie saugten das Wissen mit Eifer auf, welches sie dann in China mit demselben Eifer systematisch umsetzten. Die hohen Erwartungen an die Technologie in China haben sie aus den USA importiert und erfolgreich in die Wachstumsstrategie integriert – so entstand ein Wettbewerb, dem sich nun auch die USA nolens volens stellen müssen. Der Fall Huawei ist nur die Spitze eines Eisbergs, welcher die knallharte Wirtschaftskonkurrenz so gut ersichtlich macht.
Wie beeinflusst die schnelle Digitalisierung Chinas die zentralasiatischen Länder?
In den zentralasiatischen Ländern wirkt sie neutralisierend. Für die USA ist Zentralasien keine prioritäre Region, und Russland kann nicht mit dem hohen Stand der Technologie Chinas mithalten. Daher konnte China durch sein Angebot von digitaler Technik auch zur Überwachung der Bevölkerung an Einfluss gewinnen. Die Machtsysteme in Zentralasien beruhen auf vertikalen Strukturen. Die neuen Technologien nützen der Aufrechterhaltung einer Stabilität, die häufig nicht unseren eigenen Wertvorstellungen entspricht. Hinzu kommt, dass wenig regionale Hemmungen bestehen, Überwachungstechnologien einzusetzen.
Sie sprechen von weniger Hemmungen. Weniger als etwa im Westen?
Ja. Im Westen und vor allem in der Schweiz haben wir Hemmungen gegenüber einer frei zugänglichen Nutzung erfasster Daten. Wir nutzen Daten für gezielte Zwecke, gehen aber nicht soweit, sie zur allgemeinen Kontrolle zu verwenden. Eine solche Hemmschwelle existiert in diesen Ländern nicht.
Wenn man Daten zur Kontrolle nutzen will, müssen solche auch anfallen. Wie weit sind die Leute in dieser Region, wenn es um die Digitalisierung geht?
Smartphones sind weitverbreitet, ebenso werden die modernen Kommunikationskanäle eifrig genutzt. Doch gleichzeitig gehört es für die Bewohner zur Normalität, dass sie Vorsicht walten lassen. Häufig heisst es: «Ich muss darauf achten, die Machthaber nicht auf mich aufmerksam zu machen». Sie nehmen diesen Umstand aber mit einer gewissen Gelassenheit hin. Dies, weil sie ja bereits gewohnt waren, sich auch in einer analogen Umgebung so zu verhalten. Die Digitalisierung der Kontrolle verändert in einem Land, in dem die individuellen Freiheiten ohnehin schon eingeschränkt sind, diese Grunddisposition ja nicht. Es ändert nur die Form, der Inhalt und vor allem das Ausmass von Kontrolle und Überwachung.
Welche Auswirkung hat die neue Technologie auf das Leben?
Die Technologie hat schon Einfluss auf das Verhalten. Immerhin hat sich das iPhone in diesen Ländern sehr rasch verbreitet und Lücken in der Kommunikation oder Information geschlossen. Die neuen Technologien haben Bedürfnisse geschaffen und auch dazu geführt, dass diese Länder einen Schritt in der Entwicklung überspringen konnten. Die Festnetztelefonie hätte sehr hohe Investitionskosten in die Infrastruktur mit sich gebracht, diese konnten mit der Mobiltelefonie übersprungen werden. Hinzu kommt, dass China die zentralasiatischen Länder auch in der Bereitstellung der Infrastruktur unterstützt. In der Schweiz wehren sich gewisse Kreise gegen die Unterstützung durch Huawei. Aber die zentralasiatischen Länder nehmen diese «Entwicklungshilfe» ohne Widerstand an. China stellt für Städte in Zentralasien etwa die Internetinfrastruktur bereit. Aus Sicht der dortigen Machthaber eine Win-Win-Situation: Die Bevölkerung erhält Zugang zu modernen Kommunikations- und Informationstechnologien. Dennoch bewahren die Regierungen die Kontrolle und können die Bevölkerung effizient überwachen.
In Europa herrscht die Sichtweise vor, dass die «One Belt, One Road»-Initiative letztlich dazu dient, dass China ein geostrategisches Netz über Eurasien legt. Ist diese Sicht berechtigt?
Ich sehe als wichtigste Motivation hinter dieser Initiative das Bedürfnis nach Wachstum. China will seine Marktmacht ausbauen. Die chinesische Wirtschaft stösst an ihre Grenzen – etwa durch die Einkindpolitik und die daraus resultierende Überalterung der Bevölkerung. Der Raubbau an der Umwelt war nicht nachhaltig. Daher kann China nur durch die Entwicklung und Produktion neuer Technologien wachsen. Deshalb steht der geostrategische Aspekt nicht im Zentrum. Ich würde es so beschreiben: Systemsicherung durch Wachstum erreichen. Aber klar: Um Wachstum in der heutigen globalisierten Weltwirtschaft zu erzielen, muss man zwingend auch geopolitisch Einfluss gewinnen.
Dann ist die Exportstrategie und Digitalisierung Chinas Grundlage und integraler Bestandteil zugleich von «One Belt, One Road»?
Ja, definitiv. Das Ganze ist nicht aus fröhlichem Übermut entstanden. Es folgt vielmehr einem inneren Zwang zu wachsen, um das System zu erhalten. Und nachhaltig wachsen kann China nur noch mittels Anknüpfung ans Ausland. In China herrscht die Einsicht vor: Wenn das Land nicht stärker wird, beginnt der Niedergang. Die Initiative «One Belt, One Road» ist somit ein Instrument, um die Wachstumsstrategie umzusetzen.
Die Schweiz ist neben Italien das einzige europäische Land, das der Initiative beitreten will. Dafür erntete der Bundesrat Kritik. Ist diese berechtigt?
Ob man der Initiative formell beitritt oder nicht, ist aus meiner Sicht überhaupt nicht ausschlaggebend. Viel wichtiger ist beispielsweise die Frage, wer alles Mitglied in der Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) ist, die auf Initiative Chinas entstand. Alle EU-Länder und auch die Schweiz sind Mitglied. Um es etwas salopper zu formulieren: «Einige jammern, aber alle machen mit.» Es lohnt sich, erst die Fakten zu studieren, anstatt sich vorschnell von verzerrten Bildern verleiten zu lassen.