«Beim Gipfelkreuz bin ich ganz bei mir selbst»

Daniel Marbacher ist Geschäftsführer des Schweizer Alpen-Club (SAC). Pünktlich zum Start in die Hüttensaison spricht er über die Anziehungskraft der SAC-Hütten, seinen beruflichen Gipfel und das grösste Kapital des SAC – erster Teil des Gesprächs.

Im Büro: Daniel Marbacher führt seit einem Jahr die Geschäfte des Schweizer Alpen-Club (SAC). (Bild: Hugo Vincent)

Warum zieht es immer mehr Menschen in die Berge?
Daniel Marbacher: Die Menschen finden in den Bergen, was ihnen im Alltag fehlt: Natur, Freiheit, Ruhe, Erlebnis und Abenteuer.
Was haben diese SAC-Hütten, was ein Luxushotel unten im Tal nicht bieten kann?
Das Ursprüngliche, Archaische, Einfache. Als ich noch bei der BKW arbeitete, unternahm ich mit meinem Team eine Bergtour. Wir übernachteten in der Berglihütte hinter dem Eiger. Sie war so authentisch eingerichtet wie vor 150 Jahren: Plumpsklo im Freien, Kochen über dem Feuer, Mäusedreck. Aber genau das schweisst Menschen zusammen. In diesem Moment sind alle gleich, der Hero ist derjenige, der weiss, wie man Feuer macht und kocht.

Die Berge avancieren also zum Freizeitpark gelangweilter Städter?
Der SAC wehrt sich dagegen. Das ist nicht unser Ziel. Freizeitpärke hinterfragen wir kritisch. Wir wollen unsere Mitglieder für einen naturverträglichen Bergsport begeistern.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Bilder vom Stau vor dem Mount-Everest-Gipfel sahen?
Ich kann nicht ganz nachvollziehen, dass Menschen sich das freiwillig antun und erst noch 50’000 Franken oder mehr für die Expedition bezahlen. 90 Prozent dieser Leute gehören nicht dorthin. Sie können den Mount Everest – wenn überhaupt – nur mit Sauerstoff besteigen. Und das ist aus meiner Sicht wie Doping. Ich werde nie auf dem Mount Everest stehen, weil ich ihn nicht ohne zusätzliche Mittel schaffen würde. Das können nur ganz wenige Alpinisten auf dieser Welt. Aber ich kann nachvollziehen, dass der höchste Berg der Erde für viele Leute ein Sehnsuchtsberg ist.

Berge haben speziell für Wirtschaftsführer eine hohe Anziehungskraft. Können Sie sich erklären, weshalb Manager immer hoch hinaus und neue Gipfel erstürmen wollen?
Nicht nur Manager suchen in den Bergen den Ausgleich zum hektischen Berufsalltag mit E-Mail-Flut und dauernder Erreichbarkeit. Wenn ich drei, vier Tage in die Berge gehe, wo ich den Computer nicht dabeihabe und nicht überall Handyempfang habe, bin ich danach bestens erholt und strotze vor Kraft. Ich brauche einen oder zwei Tage, um herunterzufahren.

Was bedeutet es für Sie, auf einem Gipfel zu stehen?
Zufriedenheit, Glück, Freiheit und Ruhe. Beim Gipfelkreuz bin ich ganz bei mir selbst.

Mit welchem Gipfel verbinden Sie eine besondere Geschichte?
Mit dem Obergabelhorn – mein erster 4000er-Gipfel. Ich war 17 Jahre alt und musste zum ersten Mal Steigeisen montieren. Das Obergabelhorn ist einer der schwierigsten Viertausender in der Schweiz. Im Nachhinein bin ich froh, dass nichts passiert ist.

Was ist denn passiert?
Es war Abenteuer pur, mein Kollege und ich genossen die absolute Freiheit. Im Moment hatten wir keine Ahnung, was wir da machten. Wir merkten erst im Nachhinein, wie gefährlich die Besteigung gewesen war. In diesem Alter hält man sich für unsterblich, man kennt die Gefahren nicht genügend oder blendet sie aus und überschätzt sich masslos. Meine Mutter wusste nie, welche Tour ich gerade mache. Und das war gut so. Damals gab es kein Internet, man konnte nicht einfach ein Filmchen herunterladen und schauen, wie heikel einzelne Passagen am Berg sein können.

Welchen Berg möchten Sie noch besteigen?
Seit ich Vater von drei Kindern bin, habe ich meine Ambitionen stark zurückgeschraubt. Ich bin auch nicht mehr so fit wie früher. Diesen Sommer will ich ein paar sanfte Hochtouren machen, etwa das Gspaltenhorn.

Gibt es einen Sehnsuchtsgipfel?
Mein Gipfel ist im Moment die Führung des SAC (lacht). Mit Beruf und Familie bin ich im Moment sehr stark ausgelastet. Früher waren es natürlich die grossen Gipfel und Touren: Eigernordwand, Fitz Roy, El Capitan und so weiter. Einige dieser Touren konnte ich mit Gästen oder Freunden machen.

Haben Sie auf einer Bergtour jemals einen heiklen Moment erlebt?
Als junger Bergführer wurde ich im Grimselgebiet einmal von einer Lawine erfasst, konnte mich jedoch aus eigener Kraft befreien und erlitt einen Kreuzbandriss. Innerhalb von ein paar Minuten konnten wir alle Mitglieder der Gruppe wieder bergen. Ausser mir kam niemand zu Schaden. Dieses Ereignis holte mich auf den Boden zurück – ich hatte erst ein knappes Jahr Erfahrung als Bergführer.

Wie gross ist die Verantwortung des SAC, insbesondere der Hüttenwarte, bezüglich Gefahrenprävention und wo hört diese auf?
Hüttenwarte haben eine andere Funktion als der Schweizer Alpen-Club. Der SAC will zum Beispiel junge Menschen in einem geschützten Rahmen ans Bergsteigen heranführen. Das ist eines meiner grössten Anliegen. Als grösster Bergsportverband der Schweiz und wichtiger Partner von Jugend+Sport (J+S) ist der SAC verantwortlich für die Inhalte und Durchführung der Aus- und Weiterbildungen der Leiter. Die meisten Jugendorganisationen der SAC-Sektionen melden ihre Tourenaktivitäten bei J+S an. Damit dürfen ihre Leiterinnen und Leiter die fundierte J+S-Leiterausbildung absolvieren, was die Basis für sichere und attraktive Touren und Trainings legt. Wir legen Wert darauf, unsere Tourenleiterinnen und Tourenleiter bestmöglich aus- und weiterzubilden, und wir möchten sie für Gefahren sensibilisieren, damit sie je nach Schwierigkeit der Tour und Grösse der Gruppe einen Bergführer beiziehen.

Welche Rolle spielen die Hüttenwarte?
Die Hüttenwarte sind in erster Linie Auskunftspersonen. Wenn sie etwas nicht wissen, sollen sie das offen kommunizieren. Ich finde, sie machen das sehr gut. Der Hüttenwart fungiert als Gastgeber, Aufklärer und Sensibilisierer. Er ist nicht verpflichtet, irgendjemand von etwas abzuhalten. Wenn jemand bei schlechten Verhältnissen aufbrechen will, soll er dies eigenverantwortlich machen können.

Wie sehr wird im Kursangebot des SAC auf das Thema Sicherheit eingegangen?
Sicherheit ist ein zentraler Bestandteil unseres Kursangebotes. Natürlich geht es darum, die Faszination für den naturverträglichen Bergsport zu vermitteln, aber die Sicherheit in den Bergen steht über allem. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Tourenleiterinnen und Tourenleiter des SAC beziehungsweise des J+S übernehmen am Berg grundsätzlich die gleiche Verantwortung für ihre Gruppe wie eine Bergführerin oder ein Bergführer, obwohl Letztere in der Regel weit mehr Erfahrung aufweisen. Deshalb ist es wichtig, dass wir sensibilisieren, aufklären und zeigen, wo die Grenzen liegen. Es ist wenig sinnvoll, mit einer SAC-Gruppe aufs Matterhorn zu steigen. Das sollte man einem Bergführer überlassen.

Seit einem Jahr führen Sie als Geschäftsführer die Geschicke des SAC. Wo stehen Sie auf Ihrem Weg zum beruflichen Gipfel?
Wenn mein SAC-Gipfel das Matterhorn wäre, befand ich mich vor einem Jahr, als ich die Stelle als Geschäftsführer angetreten hatte, am Fuss des Matterhorns, also etwa zwei Stunden unterhalb des Solvaybiwaks (höchstgelegene SAC-Hütte der Schweiz, 4003 m ü.M., die Red.). Inzwischen bin ich mit meinem Expeditionsteam etwa eine Stunde im Dunklen aufgestiegen. Am Anfang musste ich den Weg ein wenig suchen, inzwischen habe ich die Stirnlampe versorgt. Ich weiss, wohin ich gehen will. Auf dem Weg zum Gipfel müssen wir aber noch ein paar Schlüsselstellen und Herausforderungen bewältigen. Es dauert noch drei, vier Jahre, bis wir dort sind, wo ich gerne hinmöchte.

Weshalb haben Sie sich für diesen Job entschieden?
Weil es mein Traumjob ist. Er beinhaltet alles, was ich mir vorstelle. Ich kann meine ganze Lebenserfahrung einbringen: Als Kind hatte ich in der JO mitgemacht, später erlernte ich das Schuhmacher-Handwerk, dann bin ich Bergführer geworden und habe einen akademischen Weg eingeschlagen und eine Weiterbildung in Betriebswirtschaft gemacht. Wenn man all die eigenen Fähigkeiten in der Berufswelt verwenden kann, gerät man in einen Flow und das bin ich beim SAC. Es ist dann wie auf einer Bergtour, wo man im Rahmen seiner Fähigkeiten gefordert ist. Ich freue mich, dass ich beim SAC meine Leidenschaft für die Berge mit vielen Gleichgesinnten teilen kann.

Ist es schwierig, Hüttenwarte zu führen, die unabhängig und selbstbestimmt in der Abgeschiedenheit der Berge leben? Lassen sie sich von Ihnen dreinreden?
Der Zentralverband hat nur eine eigene Hütte – das unbewirtete Solvaybiwak am Matterhorn. Diese Hütte ist jedoch nur eine Notunterkunft. Alle anderen Hütten gehören den Sektionen. Die Hüttenwarte sind den Sektionen unterstellt und werden von diesen auch angestellt. Unsere Aufgabe als Zentralverband ist es, gute Rahmenbedingungen für die Sektionen und Hüttenwarte zu schaffen; Empfehlungen abzugeben, wie bauliche Massnahmen ausgeführt werden sollen. Wir unterstützen die Sektionen und Hüttenwarte aber auch finanziell, etwa bei einem Umbau oder einer Renovation, wo wir uns jeweils bis zu 40 Prozent an den Kosten beteiligen. Die Rechnungen werden mit Geld aus dem Hüttenfonds bezahlt, der unter anderem durch Fundraising und Abgaben aus den Hüttenübernachtungen geäufnet wird. Bei der Energieversorgung- und Abwasserproblematik können die Sektionen auch auf das Know-how unserer Experten zurückgreifen.

Was sind Ihre Führungsprinzipien?
Ich pflege einen kollegialen Führungsstil und will da sein, wenn es mich braucht. Ich versuche, eine Vertrauenskultur zu schaffen und lasse meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei der Erledigung ihrer Aufgaben Freiräume.

Dem Jahresbericht 2018 des SAC ist zu entnehmen, wie breit der SAC thematisch daherkommt: von Digitalisierung, Marketing, Finanzen, Bauen in den Bergen, Unterhalt der 153 Hütten, Sportklettern ist da unter anderem die Rede. Welchen drei Themenbereichen widmen Sie aktuell den Hauptteil Ihrer Zeit?
Die grösste Herausforderung ist die Digitalisierung. Wir haben vor ein paar Jahren zwei grosse Projekte gestartet: Im vergangenen Oktober gingen unsere neue Website und das SAC-Tourenportal online. Gegenwärtig entwickeln wir diese Tools weiter und auch die internen Prozesse, die damit zusammenhängen, etwa Digitalmarketing und digitales Arbeiten auf der Geschäftsstelle. Ich bekomme 40-60 Mails pro Tag. Wie will man so den Alltag bewältigen – wenn man von morgens um 8 Uhr bis abends um 17 Uhr an Sitzungen weilt? Da müssen wir eine Lösung finden, wie wir anders miteinander kommunizieren können und wie wir effizient unseren Alltag gestalten können. Es gibt entsprechende Tools, diese stellen für unsere nicht digital-affinen Mitarbeitenden aber eine grosse Herausforderung dar. Dann gibt es noch die analoge Welt.

Wie meinen Sie das?
Wir haben ein eigenes Bergsportmagazin – «Die Alpen» – und einen eigenen Verlag. Bei den Zeitschriften gehen die Inserate-Einnahmen zurück, für den Verlag wird es zusehends schwieriger, Bücher zu verkaufen. Hinzu kommt, dass das Sponsoring immer anspruchsvoller wird. Wir müssen neue Einnahmequellen generieren und dabei unsere heutigen Dienstleistungen halten oder eher noch ausbauen. Als dritte Herausforderung sehe ich die Strategie. Wir führen gerade eine Ist-Analyse durch. Ab Oktober starten wir den neuen Strategieprozess – unter Einbindung der Sektionen und Mitglieder. Zu guter Letzt wollen wir mit ein bis zwei Athleten im Sportklettern an die Olympischen Spiele in Tokio im nächsten Jahr.

Eine etwas andere Frage zur Jahresbilanz 2018: Was ist das grösste Kapital des SAC – sind es die Mitglieder und Bergbegeisterten, sind es die SAC-Hütten oder sind es die Alpen?
Es sind die bergsportbegeisterten Mitglieder, die sich mit ihrem grossen Engagement und viel Herzblut für einen grossartigen Verband ehrenamtlich einsetzen.

Welche Rolle spielt der SAC für den Schweizer Tourismus?
2018 haben die 153 Hütten insgesamt 345’000 Übernachtungen und rund eine Million Besucher verzeichnet. Damit sind wir eine der grössten Tourismusorganisationen in der Schweiz.

Kann man diese Zahlen in einen Vergleich mit Jugendherbergen stellen?
Die Schweizer Jugendherbergen registrierten 2018 etwa 800’000 Übernachtungen. Mit diesem Vergleich sind wir zufrieden. Viele unserer Hütten sind exponiert und schwer zugänglich. Zudem sind einige zum Teil nur im Sommer geöffnet. Hinzu kommt, dass sich bei schlechtem Wetter nur wenige Leute in den Hütten aufhalten.

Was macht den Erfolg einer SAC-Hütte aus – sind es die Lage, der Hüttenwart, das Gastronomie-Angebot oder die Infrastruktur?
Es ist sicher die Kombination der verschiedenen Faktoren. Die Lage ist sicher entscheidend. Dann spielt der Hüttenwart eine wichtige Rolle. Immer entscheidender ist jedoch der Komfort, den eine Hütte bietet. Wir haben immer noch das Credo einer einfachen Gebirgsunterkunft, das dürfen wir nicht vergessen. Jedoch wird immer häufiger nach zusätzlichem Komfort – etwa kleinere Zimmer – gefragt. Das ist eine nicht ganz einfache Gratwanderung.

Es waren die Engländer, die im 19. Jahrhundert die Schweizer Berge entdeckten und damit den Tourismus ankurbelten. Wie viele Touristinnen und Touristen aus dem Ausland übernachten bei Ihnen?
Wir bekommen die Zahlen nicht von allen Hütten. Grob gesagt sind es rund 25 Prozent, die aus dem Ausland kommen.

Können Sie sich vorstellen, dass Zehntausende von Chinesen oder Inder jedes Jahr in den SAC-Hütten übernachten?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Die gegenwärtigen Touristenströme in den Schweizer Alpen konzentrieren sich auf ein paar Hotspots wie Jungfraujoch, Titlis, Luzern, Interlaken und Zermatt. Nur ganz wenige Gäste aus Indien und China sind in der Lage oder wollen unsere SAC-Hütten besuchen. Wir sehen das etwa bei der Mönchsjochhütte oberhalb des Jungfraujochs. Die meisten asiatischen Touristen stossen beim stündigen Aufstieg durch den Schnee an ihre Grenzen. Sie sind schlecht ausgerüstet und bekunden mit der dünnen Luft in dieser Höhe Mühe.

«Der SAC kämpft gegen den Klimawandel»

Der Klimawandel bereitet Daniel Marbacher grösste Sorgen. Der Geschäftsführer des Schweizer Alpen-Club (SAC) äussert sich aber auch zur Gletscherinitiative und Alpen-Lobby im Bundeshaus. Er fragt sich: Ist der SAC nun ein Schutz- oder Nutzverband? Spannende Antworten im zweiten Teil des Gesprächs.

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Gipfelstürmer: Daniel Marbacher im Aufstieg zur Hinderi Spillgerte im Diemtigtal. (Bild: Hugo Vincent)

Folgen der globalen Klimaerwärmung sind Fels- und Bergstürze wie vor knapp zwei Jahren am Piz Cengalo im bündnerischen Bergell. Bereitet Ihnen der Klimawandel Sorgen?
Daniel Marbacher: Ja, ich mache mir grosse Sorgen. Die Klimaerwärmung wird nebst der Überbevölkerung und Wasserknappheit in gewissen Regionen der Erde wohl das grösste Problem für die Menschheit sein. Aus diesem Grund unterstützt der SAC die Gletscherinitiative. Wir nehmen das Thema Klimawandel sehr ernst und wollen Massnahmen definieren, wie wir den CO2-Ausstoss reduzieren können.

Wie soll das gehen?
Die grösste Herausforderung für uns ist die Mobilität und die Energieversorgung in den Hütten. Wenn ich beispielsweise von meinem Wohnort Burgdorf eine Tagestour unternehmen will, kann ich nicht immer mit dem ÖV anreisen, weil ich sonst am Abend nicht mehr nach Hause komme oder am Morgen zu spät bin. Ich muss also entweder das Auto nehmen oder mein Verhalten ändern und beispielsweise vermehrt mehrtägige Ausflüge planen, die es mir ermöglichen, mit dem ÖV zu reisen. Auch die Bildung von Fahrgemeinschaften schont die Umwelt. Unser Bekenntnis zur Gletscherinitiative heisst aber auch, dass wir Massnahmen auf der Geschäftsstelle treffen müssen. Wie können wir etwa den CO2-Ausstoss bezüglich Papier-, Energie- und Stromverbrauch reduzieren? Wir sind wohl jener Verband in der Schweiz, der am stärksten vom Klimawandel betroffen ist.

Als wie dramatisch beurteilen Sie auf einer Skala von 0 bis 100 die Situation in den Schweizer Alpen, den Rückgang der Gletscher?
100 – sehr dramatisch. Bis Ende dieses Jahrhunderts wird es in der Schweiz praktisch keine Gletscher mehr geben. Dazu muss ich ein wenig ausholen: Der Aletschgletscher, zum Beispiel, ist auf dem Konkordiaplatz noch rund 800 Meter tief. Die grossen Gletscher reagieren sehr träge auf Veränderungen, der grösste Rückgang wird also erst noch kommen. Wenn die Gletscher aber einmal reagieren, tun sie das schnell. Der Zustieg zur Konkordiahütte führt heute von der Gletscheroberfläche über Treppenstufen zur etwa 150 Meter höher gelegenen Hütte. Schmilzt der Gletscher einmal ganz, bildet sich möglicherweise beim Konkordiaplatz ein See. Die Alpinisten müssten dann mit dem Ruderboot an den Fuss der Hütte fahren, die 950 Meter oberhalb des Gletschersees liegt. Es fragt sich dann, ob die Hütte dann noch am richtigen Ort steht.

Bröckelnde Felsen, Lawinengefahren, schmelzende Gletscher – wie riskant ist der Bergsport?
Wenn man gut ausgebildet ist und sich seriös auf eine Tour vorbereitet, ist der Bergsport nicht gefährlicher als Autofahren. Natürlich müssen Regeln eingehalten werden – gesperrte Wege dürfen nicht begangen werden. Der Klimawandel verlangt geradezu eine bessere Vorbereitung, insbesondere bei Hitzesommern wie zuletzt 2018, weil der Steinschlag dann markant zunimmt. Das bedeutet, dass gewisse Touren nicht mehr durchgeführt werden können. Aber ich möchte betonen: Ich bin gegen Verbote. Selbstverständlich muss man die Leute für Gefahren sensibilisieren, aber wenn eine Person trotzdem losgehen will, soll sie das tun, sie handelt dann auf eigene Verantwortung.

Was bedeutet der Klimawandel ganz praktisch für die SAC Hütten?
Wegen des Gletscherrückgangs müssen Wege neu angelegt werden. Dadurch werden sie länger und gefährlicher. Gelangte man früher über Gletscher direkt zur Hütte, müssen heute Umwege mit zum Teil zusätzlichen 200 Höhenmetern in Kauf genommen und 40-gradige Moränen mit hoher Steinschlaggefahr ab- und aufgestiegen werden. Ein weiteres Problem ist die Wasserversorgung in den Hütten. Setzt die Schneeschmelze früher im Jahr ein oder steigt die Anzahl Hitzetage mit längeren Trockenperioden, wird das Wasser knapp. Da müssen wir Lösungen finden. Was mir auch Sorgen bereitet sind Hütten, die auf Permafrostboden gebaut sind, wie die Bertolhütte zum Beispiel. Wenn der Permafrost auftaut, bröckelt das Gelände. Wir müssen uns dann fragen, ob wir die SAC-Hütte halten können. Das ist eine grosse Herausforderung.

Und was bedeutet der Klimawandel für den SAC generell? Wo investiert der SAC in Anbetracht dieser Entwicklung? Baut er weitere Hütten oder wird die Streichung von Hütten erwogen?
Wir möchten die bestehende Infrastruktur erhalten und bauen grundsätzlich keine Hütten an neuen Standorten. Uns ist bewusst, dass wir wegen des Klimawandels nicht umhinkommen, gewisse Standorte zu hinterfragen und längerfristig womöglich aufzugeben. Wir müssen sicher auch die Gäste der Hütten aufklären, dass das Betreiben einer Hütte nicht immer einfach ist. Zudem sind zum Beispiel Duschen in Hütten, wo wir eh schon Wasserknappheit haben, nicht sinnvoll.

Ist der SAC in diesem Thema mit der Wissenschaft, den Universitäten vernetzt? Gibt es Projekte, die den SAC mit Klimaforschern verbinden und falls ja, welche?
Gemeinsam mit der Uni Freiburg und einem privaten Geologiebüro haben wir gerade ein Innosuisse-Projekt eingegeben, das im Kontext des Permafrosts untersuchen soll, wie gewisse Hütten längerfristig mit Wasser aus der periglazialen Zone versorgt werden können.

Die Klimaerwärmung hört ja nicht an den Landesgrenzen auf. Wie sehr ist der SAC mit Partnerorganisationen in anderen Ländern vernetzt, gibt es gemeinsame Projekte?
Der SAC ist Mitglied der Internationalen Union der Alpinismusvereinigungen (UIAA) und des Club Arc Alpin (CAA), Dachverband der acht führenden Bergsportverbände des Alpenbogens. Die Verbände setzen sich gemeinsam für den Alpinismus, den Naturschutz und die alpine Raumordnung auf internationaler Ebene ein, speziell in den Gremien der Alpenkonvention. Weil sich die Schweiz gegen eine Ratifizierung der Alpenkonvention ausgesprochen hat, geht sie im CAA ihren eigenen Weg.

Der SAC ist ein Verein, er dürfte gemäss Statuten politisch neutral sein, was er aber in diesem Themenbereich sehr schlecht sein kann. Wie gehen Sie mit diesem Konflikt um, wenn es denn einer ist?
Der SAC hält sich grundsätzlich mit politischen Statements zurück. Wenn er aber wie beim Klimawandel direkt betroffen ist, darf er sich politisch äussern. Deshalb unterstützen wir die Gletscherinitiative.

Wie sehr ist der SAC mit Politik und Wirtschaft vernetzt? Hat der SAC eine Lobby im Bundeshaus?
Ja, 20 Parlamentarier haben beim SAC eine Mitgliedschaft – 14 Nationalräte, 5 Ständeräte und Bundesrat Ueli Maurer.

Haben die Alpen eine Lobby im Bundeshaus?
Wir setzten uns mit verschiedenen anderen Organisationen für die Anliegen der Alpen ein und haben auch diverse Kontakte zu Politikern.

Wenn immer mehr Leute in die Berge strömen und abseits der markierten Wege unterwegs sind, bedeutet das auch, dass Wildtiere aufgescheucht und Alpenblumen ausgerissen oder zertrampelt werden. Wie schützt der SAC die Rückzugsgebiete dieser bedrohten Tier- und Pflanzenarten?
Wir sind für Schutzgebiete, wo es aus Gründen des Naturschutzes gerechtfertigt ist. Wir sensibilisieren unsere Mitglieder dafür, dass sie sich an die Regeln halten und klären sie darüber auf, wie sich Tiere in freier Wildbahn verhalten. Wir sind aber gegen flächendeckende Verbote.

Sollte man widerrechtliche Handlungen strenger sanktionieren?
Das ist nicht unsere Aufgabe. Sanktionen sprechen andere aus. Unsere Aufgabe ist es, zu sensibilisieren und aufzuklären.

Wintersportlerinnen und Wintersportler befürchten, dass das Angebot an Skitourenrouten und Schneeschuhwanderwegen aus ökologischen Gründen dereinst reduziert werden könnte. Können Sie Entwarnung geben?
Nein, aber wie bereits erwähnt bin ich zuversichtlich, dass es nicht so kommen wird. Wir sind für einen naturverträglichen Bergsport. Im Moment legen wir den Fokus eher auf den freien Zugang als auf den Naturschutz, der im Parlament ohnehin auf eine grosse Anhängerschaft zählen kann. Gemeinsam mit dem Bergführerverband versucht der SAC, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen.

Wie lässt sich die Nutzung der Bergwelt mit dem Naturschutz verbinden?
Das ist unsere grosse Herausforderung. Nicht immer werden wir von allen verstanden: Ist der SAC nun ein Schutz- oder ein Nutzverband? Wir bemühen uns, den Leuten einzutrichtern, nichts wegzuwerfen und Schutzgebiete zu respektieren, damit wir alle einem naturverträglichen Bergsport frönen können.

Tausende Touristen aus China und Indien werden auch heuer wieder in den Schweizer Bergen unterwegs sein. Gedenkt der SAC, den Overtourism zu regulieren?
Nein, das ist nicht unsere Aufgabe. Und wie ich schon erwähnt habe, der Ouvertourism konzentriert sich zurzeit auf wenige Hotspots. Die SAC-Hütten werden wahrscheinlich auch in Zukunft nicht von indischen und chinesischen Touristen überrannt.

Wenn Sie einen Wunsch für den SAC frei hätten, was würden Sie sich wünschen?
Dass wir den Kern des Schweizer Alpen-Club nie aus den Augen verlieren. Der SAC wird von Menschen geprägt, die sich ehrenamtlich und mit viel Leidenschaft für einen naturverträglichen Bergsport einsetzen.

Wenn Sie einen Wunsch für die Alpen frei hätten, was würden Sie sich wünschen?
Ich wünschte mir, dass sie sich gegen den Klimawandel wehren könnten.

Andersrum gefragt: Wo steht der SAC in fünf Jahren? Was ist Ihre Vision?
Mein Ziel ist es, dass wir dereinst einer der modernsten Verbände in der Schweiz sind. Und dass wir als Zentralverband unseren Sektionen und Mitgliedern Top-Dienstleistungen anbieten können.

https://www.sac-cas.ch/

Solvaybiwak auf 4003 Metern über Meer ist Top of SAC

Der Schweizer Alpen-Club (SAC) wurde 1863 von 35 Bergsportbegeisterten aus Aarau, Bern, Buochs, Glarus, Luzern, Olten, St. Gallen und Zürich im Bahnhofbuffet Olten gegründet. Im gleichen Jahr öffnete die Grünhornhütte am Tödi ihre Tore – sie ist die älteste Bergunterkunft in der Geschichte des SAC. Was vor 156 Jahren ein reiner Männerklub war, hat sich heute zu einem modernen Verband entwickelt, der allen Interessierten offensteht.

Der SAC führt 153 Hütten mit rund 9000 Schlafplätzen. Der Bergsportverband hat 154’000 Mitglieder, aufgeteilt in 111 Sektionen. Seit einem Jahr fungiert Daniel Marbacher als Geschäftsführer. Der 45 Jahre alte Luzerner führt am Hauptsitz an der Monbijoustrasse in Bern 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und verfügt über ein Jahresbudget von rund 15 Millionen Franken. Marbacher ist gelernter Schuhmacher, später absolvierte er einen Masterstudiengang in Geografie. Er arbeitet rund 16 Jahre als Bergführer. Zuletzt arbeitete er im Bereich Wasserkraft bei der BKW Energie AG als Leiter des Fachbereichs Umwelt.

Das höchstgelegene Bauwerk, das kleinste Biwak, die meistfrequentierteste Hütte. Wer die Liste der SAC-Unterkünfte durchcheckt, gerät ins Staunen: Das auf 4003 Meter über Meer gelegene Solvaybiwak ist Top of SAC. Zwei Biwaks bieten gerademal acht Personen Platz: Schalijochbiwak und Refuge de Chalin – kleiner geht nicht. Die Britanniahütte ist der Hotspot des SAC. 7565 Personen übernachteten im vergangenen Jahr in der Berghütte oberhalb von Saas Fee – Besucherrekord 2018.

2018 übernachteten insgesamt 342’902 Personen in den SAC-Hütten – 38’920 mehr als 2015 (+11,35 Prozent). 166’078 davon waren SAC-Mitglieder, 110’575 Nichtmitglieder, 43’680 Jugendliche und 22’569 Gratisübernachtungen (Bergführer in Ausübung des Berufes, z.T. Kinder, Militär und Frondienstleistende für die Hütte).

Laut Jahresbericht 2018 machen die SAC-Mitgliederbeiträge gut die Hälfte (53,5%) der Einnahmen des SAC-Zentralverbands aus. Die übrigen Einkünfte waren Erlöse aus Inserate-Verkäufen, Kursgelder und Buchverkäufe (33,3%) sowie Beiträge der öffentlichen Hand (8,3%) und von Sponsoren und Spendern (6,8%). Mit einem Clubvermögen von 9,68 Millionen Franken ist der SAC grundsätzlich gut aufgestellt. Die meisten Mittel sind gebunden, beispielsweise im Hüttenfonds. Der SAC operierte im vergangenen Jahr mit einem Budget von 14,5 Millionen Franken.

Wer sich für die schönsten und spektakulärsten SAC-Hütten in den Schweizer Alpen interessiert, dem sei das Buch «SAC-Hütten-Architektur» von Martin Zettel empfohlen. Das macht Appetit auf mehr. «Das Beste aus den SAC-Hüttenküchen» ist ein weiteres Buch, das man unbedingt lesen sollte. Es enthält 40 Rezepte und Routenbeschreibungen zu den Hütten, in denen diese lukullischen Köstlichkeiten zubereitet werden.

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