Mittendrin in den Brexit-Verhandlungen ist auch Premierministerin Theresa May. (Bild: Shutterstock)

Vor eintausend Tagen haben die Briten in einer Volksabstimmung mehrheitlich dafür gestimmt, die Europäische Union zu verlassen. Trotz des bevorstehenden Schlussakts des Brexit-Dramas ist auch jetzt noch völlig unklar, wie das Verhältnis zwischen Grossbritannien und der EU in Zukunft aussehen wird. Es ist, gelinde gesagt, bemerkenswert, dass immer noch alle Optionen auf dem Tisch liegen: ein harter No-Deal-Brexit, ein Last-Minute-Deal, eine Verschiebung und sogar eine Annullierung des gesamten Brexits.

Viele fragen sich, warum die EU und Grossbritannien keine Einigung erzielen können. Die Antwort ist einfach: Die Forderungen aus London und Brüssel sind unvereinbar. Dies zeigt sich ganz deutlich bei der Grenzfrage. Wenn der Brexit überhaupt eine Bedeutung haben soll, muss Grossbritannien den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlassen. Dadurch könnte Grossbritannien unter anderem eine eigene Handels- und Einwanderungspolitik gestalten. Der bekannte Ausdruck «taking back control», also «die Kontrolle wiedererlangen», impliziert jedoch, dass es eine Grenze zwischen Grossbritannien und der EU geben muss. Wenn diese Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland verlaufen würde, könnte das zu einem gewaltsamen Konflikt führen. Daher fordert die EU eine dauerhafte Lösung für dieses Problem (den so genannten «Irish Backstop»). Wenn es innerhalb von Irland keine Grenze geben kann, bleiben nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder muss Grossbritannien durch das Ziehen einer Grenze in der Irischen See geteilt werden oder das gesamte Vereinigte Königreich muss im Binnenmarkt bleiben. Beide Optionen finden in London wohl kaum Zustimmung.

Lehren aus dem Brexit-Chaos
Niemand kann vorhersagen, wie man aus der derzeitigen Sackgasse wieder herauskommen wird. Es gibt keine guten Optionen. Wenn man in diesem Debakel überhaupt etwas Gutes sehen will, dann dies: Die Schweiz und andere Länder, einschliesslich Grossbritannien, können daraus einige Lehren ziehen.

Zunächst einmal haben die britischen Politiker den Brexit eintausend Tage lang immer wieder nach hinten verschoben. Diese ganze Verzögerung hat jedoch nichts gebracht. Im Inland hat sie wertvolle Ressourcen gebunden und dafür gesorgt, dass anderen Politikbereichen weniger Aufmerksamkeit zugekommen ist. International betrachtet, hat sich die Vorstellung, dass die EU nervös werden und in letzter Minute Zugeständnisse machen würde, als falsch herausgestellt. Britische Politiker, darunter auch Premierministerin Theresa May, haben das Land in eine miserable Lage gebracht. Das sollte eine Warnung an diejenigen in der Schweiz sein, die der Ansicht sind, dass das Rahmenabkommen jahrelang auf Eis gelegt werden könne. Das Ergebnis des Brexits ohne weiteres Zutun ist ein No-Deal-Verlassen der EU. Das Ergebnis gescheiterter Schweizer Verhandlungen um ein Rahmenabkommen ist, dass die Abkommen der Schweiz mit der EU an Wert verlieren. Die Lage der Schweiz ist in dieser Hinsicht deutlich besser als jene von Grossbritannien, aber Inaktivität ist in beiden Fällen nicht zu empfehlen.

Zweitens ist die EU längst nicht mehr so sehr mit sich selbst beschäftigt wie früher. Lange Zeit wirkte die Europäische Union wie eine schwache, nach innen gerichtete politische Institution, die von ihren eigenen Krisen zermürbt wurde. Man kann argumentieren, dass sich das geändert habe. Die EU-Wirtschaft ist fast genauso gross wie die amerikanische, und nach derzeitigen Wechselkursen berechnet, etwa 40 Prozent grösser als die chinesische Wirtschaft. Begreift man die EU als einziges Land, haben nur China und Indien eine grössere Bevölkerungszahl. Die EU ist der grösste Handelsblock der Welt. Die Hälfte der reichen Länder der Welt ist Mitglied der EU. Die EU ist sich ihres Einflusses, den sie aus diesen Zahlen ableiten kann, bewusst geworden und hat ihren Ton gegenüber den USA und China verschärft.

Grossbritannien und die Schweiz spüren die Auswirkungen einer neu belebten Europäischen Union. Als die Briten eine weitere Verschiebung des Brexits und mehr Zugeständnisse von der EU verlangten, mussten sie erkennen, dass ihr Verhandlungspartner wenig entgegenkommend war und viele in der EU dem Austritt Grossbritanniens sogar mit Freude entgegenblickten. Zu beachten ist dabei, dass ein Verlust für die EU als Ganzes für Einzelinteressen innerhalb der Union durchaus von Vorteil sein kann. Der Brexit reduziert das Bruttoinlandsprodukt der EU um so viel, wie wenn die 19 kleinsten Länder den Block verlassen würden. Dies würde jedoch neue Möglichkeiten innerhalb der Union eröffnen. Der französische Präsident Emmanuel Macron würde das zwar nicht zugeben, aber seine ehrgeizigen Pläne fänden in der EU nach dem Brexit mehr Gehör. Früher oder später wird Deutschland erkennen müssen, dass es nicht mehr in der Lage ist, gegen die Pläne der «südlichen Mitgliedstaaten» ein Veto einzulegen. Und eine etwaige Neuverhandlung der Regeln der doppelten Mehrheit, wie sie im Vertrag von Lissabon festgehalten sind, wird sich schwierig gestalten. Für viele Kräfte in der EU ist die Zeit reif, «ein paar alte Probleme loszuwerden». Dazu gehören die britischen Sonderrechte, aber auch das von der Schweiz verursachte klaffende Loch in der EU-Karte.

Die Konsequenzen für die Schweiz sind bereits sichtbar. Mehrere osteuropäische Länder fordern im Zuge der Kohäsionsmilliarde höhere Beiträge der Schweiz. Französische Richter haben die grösste Schweizer Bank in einem Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung zu einer Geldstrafe von etwa 5 Milliarden US-Dollar verurteilt. Vor nicht allzu langer Zeit fühlten sich deutsche Behörden befugt, den Bruch mit dem Schweizer Gesetz zu ermutigen und CDs mit Steuerinformationen zu kaufen. Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren wurde das bis dato heilige Schweizer Bankgeheimnis unter dem steigenden Druck von Seiten der EU und Amerika schnell aufgegeben. Wenn es hart auf hart kommt, wird sich die Schweiz wiederholt in der Rolle von David gegen Goliath wiederfinden. Handelsstatistiken belegen das Ungleichgewicht: Die Schweizer Exporte in die EU betragen pro Person rund 16’000 CHF, während die EU-Exporte in die Schweiz pro EU Bürger nur 350 CHF betragen. Es überrascht daher nicht, dass die EU der Schweiz zwei Optionen für das Rahmenabkommen bietet: es anzunehmen oder abzulehnen – take it or leave it.

Eine dritte Lehre, die viele Beobachter bereits aus der aktuellen britischen Situation gezogen haben, ist, dass man, wenn man die Europäische Union bekämpfen will, dies besser von innen heraus tun sollte. Ob Viktor Orbáns Haltung gegen die Einwanderung oder Sebastian Kurzs Kürzungen des Kindergeldes für Einwanderer –, das europäische Recht wird häufig angefochten, ignoriert und verletzt. Die Folgen sind oft nicht sehr schwerwiegend. Wie Simon Kuper kürzlich festgestellt hat, verweist die Europäische Kommission immer weniger Fälle gegen ungehorsame Mitgliedstaaten an den EuGH. Dies hat natürlich Auswirkungen auf das Verhalten der EU-Mitglieder. Es bleibt zu diskutieren, welche Strategien die Schweiz aus dieser Beobachtung ziehen sollte.

Die letzte ökonomische Lehre aus dem Brexit-Abenteuer betrifft die überraschend geringen Auswirkungen, die der Brexit bisher auf die britische Wirtschaft hatte. Viele Vorhersagen, die einen unmittelbaren wirtschaftlichen Abschwung nach dem Brexit-Votum prophezeiten, haben sich als falsch erwiesen. Die britische Arbeitslosenquote ist mit 3,9 Prozent heute auf dem niedrigsten Stand seit 1975. Trotzdem wächst die britische Wirtschaft langsamer als diejenige aller anderen G7-Länder. Aktuelle Forschungsergebnisse von Benjamin Born und seinen Mitautoren deuten auf einen erheblichen Rückgang der Wirtschaftsleistung hin. Ein wesentlicher Grund dafür, dass sich die Lage nicht noch mehr verschlechtert hat, ist die Tatsache, dass das britische Pfund gegenüber dem Euro um mehr als zehn Prozent abgewertet wurde. Wenn nur Griechenland diese Option gehabt hätte.

Ausblick
Die Brexit-Geschichte wird kein glückliches Ende nehmen. Wie auch immer es kommen mag – das Vereinigte Königreich wird mit den Konsequenzen leben müssen. Es hat seinen engsten Verbündeten und Handelspartner herausgefordert und das zu einer Zeit, in der sich dieser Partner zunehmend gestärkt fühlt und sich auch so verhält. Der chinesische General und Stratege Sun Tzu hat einmal geschrieben: «Gewinnen wird derjenige, der weiss, wann er kämpfen sollte und wann nicht.» Grossbritannien hat den falschen Zeitpunkt gewählt und nie wirklich eine Strategie zur Umsetzung des Brexits entwickelt. Der Ausgang wird nicht katastrophal sein, aber eine erhebliche Verschlechterung des britischen Lebensstandards nach sich ziehen. Die Lage der Schweiz in Bezug auf die EU ist markant anders. Das Land war nie ein Mitgliedsstaat und verfügt über jahrzehntelange Erfahrung, was Verhandlungen mit der EU angeht. In der aktuellen Situation ist diese Erfahrung wahrlich vonnöten. Die Beteiligten täten gut daran, die Lehren aus dem Brexit einzubeziehen.

Stefan Legge ist Wissenschafter und Dozent an der Universität St.Gallen. Der Text erschien ursprünglich auf swissinfo.ch.

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