Die Politikwissenschaftlerin Stefanie Walter spricht im influence-Gespräch über die Brexit-Verhandlungen sowie über die Zukunft der EU und das Verhältnis der EU zur Schweiz. (Bild: ZVG)
Sie erforschen die Reaktion der EU-Bevölkerung auf den Austritt des Vereinigten Königreichs. Wie sehen die EU-Bürger den Brexit?
Stefanie Walter: Mich überrascht am meisten, dass die Bürger der EU-27-Staaten das Dilemma des Brexit-Prozesses gut verstehen. Sie unterstützen ganz emotionslos das, was ihnen nützt. Wir können drei grosse Hauptziele unterscheiden: Für rund ein Drittel – und das ist die grösste Gruppe – ist das wichtigste Ziel, dass der Handel und die Handelsbeziehungen zwischen der EU, ihrem Land und dem UK bestehen bleiben. Die wirtschaftlichen Kosten, die ein Brexit oder vor allem ein harter Brexit haben kann, scheinen den Leuten sehr bewusst zu sein. Diese Kosten möchten sie minimieren. Die zweitgrösste Gruppe, etwa ein Viertel, möchte in erster Linie verhindern, dass auch in Zukunft Staaten die EU verlassen werden.
Diese Leute möchten einen Dominoeffekt verhindern?
Genau. Sie möchten verhindern, dass der Brexit andere Staaten zu einem Austritt ermuntert. Im Gegensatz dazu sagen jedoch etwa 20 Prozent der Befragten, dass sie es am wichtigsten finden, dass man mit dem Brexit einen Mechanismus entwirft, der es Mitgliedstaaten in Zukunft leichter macht, die EU zu verlassen.
Widersprüchliche Ziele.
Man sieht schnell, dass vor allem diejenigen, die der EU positiv gegenüberstehen, unbedingt vermeiden wollen, dass andere Staaten die EU verlassen. Bei den EU-Skeptikern ist eine absolute Mehrheit für das Ziel, mit dem Brexit den Austritt weiterer Staaten zu vereinfachen.
Was schliessen Sie daraus?
Die Sorge der EU-Befürworter ist nicht ganz unbegründet, dass der Brexit für die EU-Skeptiker zu einem grossen Vorbild werden wird. Dies, weil die EU-Skeptiker darin die grosse Chance sehen, den Austritt des eigenen Land selbst aus der EU voranzutreiben. Ich hätte nicht erwartet, dass dies so klar zum Ausdruck kommen würde.
Was bedeutet das für mögliche Nachahmeffekte durch den Brexit?
Das bedeutet, dass ein Brexit, der das Vereinigte Königreich im Vergleich zur EU-Mitgliedschaft nach dem Austritt besserstellt, tatsächlich zu verstärkten Austrittsbestrebungen in weiteren Mitgliedstaaten führen dürfte. Das wäre eine Gefahr für die langfristige Stabilität der EU.
Wie schneidet die EU-Kommission in der Umfrage bei der Suche nach einem Deal mit London ab?
Die Leute haben überraschend klare Wünsche an die Verhandlungsführung. Ich habe sie auch dazu befragt, ob die EU eher eine wenig kompromissbereite, also harte Haltung gegenüber London einnehmen solle. Ganz im Sinne: «Wenn ihr die Vorteile der EU haben wollt, müsst ihr euch auch an den Kosten beteiligen!» Oder ob Brüssel dem UK eher entgegenkommen solle. Die überwiegende Mehrheit – und das ist sehr stabil über die letzten zwei Jahre – unterstützt eine eher harte Haltung. Die EU-Bürger unterstützen insgesamt also die Verhandlungsführung der EU-Kommission.
Sollte jetzt Brüssel die Verhandlungstaktik ändern und den Briten stark entgegenkommen, so würde das von der Bevölkerung nicht goutiert?
Meine Daten legen nahe, dass die Bürger kein extremes Entgegenkommen gegenüber London wollen, wenn sie auch durchaus gewissen Kompromissen gegenüber offen sind. Ich glaube, das erklärt auch, weshalb zum Beispiel der französische Präsident Emmanuel Macron eine derart harte Haltung einnimmt. Man darf nicht vergessen, dass aktuell in der EU Wahlkampf ist. Die Regierungen signalisieren ihren Wählerinnen und Wählern: «Wir verteidigen eure Interessen gegen einen Drittstaat!» Für die Briten ist das schwierig zu verstehen, weil das zum Beispiel auch dazu führt, dass erstmals in der Geschichte die kleinen Iren in Brüssel mehr Einfluss haben. Für die EU ist in der Nordirlandfrage klar: «Wir schützen einen von uns, einen Mitgliedstaat gegen einen Drittstaat, der von uns was will.»
Welche Erwartungen haben die Leute, wenn es um die Zukunft nach dem Brexit geht?
Die überwiegende Mehrheit der Leute denkt, dass der Brexit auf ihr Land kaum Auswirkungen haben werde. Demgegenüber wissen wir aus objektiven Daten, dass der Brexit sehr konkrete Folgen für die EU-27-Staaten haben wird. Aber die Verwundbarkeit der einzelnen EU-Länder gegenüber einem harten Brexit variiert stark. Irland ist stark exponiert, danach kommen Deutschland und die Niederlande. Für Deutschland allein wird die Auswirkung auf rund fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts geschätzt. Noch überraschender finde ich übrigens, dass viele auch glauben, dass es nicht einmal Auswirkungen in Grossbritannien geben werde.
Die Liberalen haben gedreht: Auch wenn sie immer vor dem Austritt der Briten gewarnt haben, finden sie jetzt: «Dann geht doch, aber schnell!» Hat man da auch ein wenig Angst, dass die Briten die EU dann lahmlegen könnten?
Grossbritannien ist tief gespalten. Der Graben zwischen Brexiteers und Remainern ist mittlerweile der wichtigste in der Politik des Königreichs. Er ist inzwischen so gross, dass die Leute in Meinungsumfragen schon sagen, sie wären gegen eine Heirat eines Kindes mit jemandem von der anderen Seite. Die Identitäten beider Seiten überdecken inzwischen alle anderen Fragen, die zuvor von Bedeutung gewesen waren. Selbst die Verbundenheit mit einer Partei ist mittlerweile viel schwächer. Das ist bemerkenswert, denn Europa war vor fünf Jahren noch ein Thema unter fernerliefen: Für die Mehrheit der Briten war es unwichtig. Jetzt ist es in Umfragen zum mit Abstand wichtigsten Thema geworden. Dass gibt Anlass zur Sorge: Man fragt sich, wie soll die britische Gesellschaft je wieder zusammenkommen? Und das hat dann auch indirekt wieder Folgen für die EU, wenn die Briten länger bleiben. Die restlichen Europäer fragen sich, wie die Briten überhaupt noch in der EU zu einer konstruktiven Politik bereit sind, wenn die Frage so hochgradig polarisiert. Ich denke, genau davor haben viele in der EU Angst.
Wenn man Ihnen zuhört, so ist dieser Brexit ein fundamentaler Einschnitt – für die eine wie die andere Seite.
Es war von Anfang an klar, dass es ein grosser Schritt werden würde. Es ist ja noch nie ein Staat aus der EU ausgetreten. Das Tragische an der Sache ist: Es hätte nicht so schlimm kommen müssen. Wenn Sie mich oder andere EU-Experten im Sommer 2016 nach der Abstimmung gefragt hätten, was jetzt kommen werde, hätten alle gesagt: Man müsse jetzt miteinander reden und ein Arrangement finden. Ich hätte darauf getippt, dass die Briten etwa in den Europäischen Währungsraum EWR wechseln oder einer anderen Kompromisslösung zustimmen würden. Niemand hätte einen No-Deal überhaupt für möglich gehalten. Kein Experte für internationale Beziehungen – mich eingeschlossen – hätte sich ausmalen können, dass die Briten einfach so mal den Artikel 50 anrufen würden. Dies hat ihre Verhandlungsmacht so massiv beschnitten, weil die Uhr plötzlich zu ticken anfing und ein No-Deal-Szenario möglich wurde.
Worauf führen Sie das zurück?
Die Briten haben in drei Dimensionen Pech gehabt. Erstens kam das Brexit-Votum just zu einem Zeitpunkt, als sich Labour als Opposition auf einen linkeren Kurs hinzubewegen begann, mit einem Oppositionsführer, der den Brexit selbst auch wollte. Darum offerierte Labour auch nie eine kraftvolle Alternativ-Version zum Kurs der Regierung, obwohl ja viele Labour-Wähler Remainer sind. Somit fiel die Opposition als Check weg. Dann wurde US-Präsident Trump gewählt, der anders als sein Vorgänger nicht zu Kompromissbereitschaft anmahnte, sondern Öl ins Feuer goss. Schliesslich kommt noch das auf Konfrontation ausgerichtete politische System hinzu, was man ja schon an der Sitzordnung im Parlament sieht: Regierungslager und Opposition sitzen sich frontal gegenüber. Kompromiss ist im Westminster-System nicht wirklich vorgesehen. Eine direktdemokratische Volksabstimmung ist da systemfremd. Um eine Volksabstimmung umzusetzen, braucht es den Kompromiss. Darum haben wir zum Beispiel in der Schweiz auch eine so konsensorientierte Regierung und generell ein auf Kompromiss ausgelegtes System. Im britischen System gibt es nur Gewinner und Verlierer.
Bleiben wir bei der Schweiz. Kürzlich hat Manfred Weber, der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, eine härtere Gangart gegen die Schweiz angekündigt: Er werde es nicht länger dulden, wenn man ständig gegen Brüssel stänkere, aber alle Vorteile geniessen wolle. An wen richtet sich Weber? An die Schweiz, an die CDU/CSU oder womöglich sogar an die EU-Gegner in Ungarn, Polen oder Italien, die wiederum unsere EU-Gegner als ihre besten Fürsprecher in Europa sehen?
Der EU-Diskurs ist in der Schweiz stark durch die eigene Perspektive geprägt. Wenn man die EU-Perspektive genauer anschaut, herrscht dort die Meinung vor, dass die Schweiz mit den Bilateralen Verträgen eigentlich einen Super-Deal bekommen habe –, den besten von allen Staaten im Umkreis der EU. Die Schweiz bekommt die Sachen, die sie will mit den meisten Ausnahmen und trotzdem mit einer sehr engen Anpassung an den Markt. Man muss auch sehen, wie die Situation war, als die Schweiz damals die Verhandlungen führte: In Brüssel dachte man damals, dass die Schweiz irgendwann beitreten werde, es gab ja das Beitrittsgesuch. Und es war auch eine andere EU: Viel kleiner, viel westeuropäischer, viel stärker vernetzt mit der Schweiz als viele neue Mitgliedstaaten heute. Die Drohung, den Gotthard zu sperren, wird einen Esten nicht aus dem Konzept bringen. Der sagt sich, da fahren wir ohnehin kaum hin und wenn, dann fahren wir halt über den Brenner. Für Deutschland und Italien hat der Alpentransit eine viel grössere Bedeutung. Darum hatte die Schweiz früher insgesamt mehr Goodwill in der EU und damit auch mehr Verhandlungsmacht.
Wie sieht man heute in der EU die Position der Schweiz?
Ich glaube schon, dass es eine gewisse Frustration gibt über das Verhalten der Schweiz. Ein anderes Beispiel ist die Abstimmung zum Waffenrecht: Wegen der Waffentradition in der Schweiz hat die EU für die Schweiz einer ganzen Reihe von Ausnahmen bei der neuen Waffenrichtlinie zugestimmt, der Bundesrat hat da sehr gut verhandelt. Trotzdem stimmt die Schweiz jetzt über die Waffenrichtlinie ab, mit teilweise stark europafeindlichen Parolen. In der EU besteht also der Eindruck, dass man der Schweiz immer wieder weit entgegenkomme, und trotzdem sind in der Schweiz Skeptizismus und sogar Wut über die EU stark ausgeprägt. Der Kommentar von Weber reflektiert die Frustration darüber. Dass die Kritik von Manfred Weber kommt, ist auch interessant: Gerade die CSU war der Schweiz immer sehr wohlgesonnen, gerade die Christlichsozialen und die SVP teilen ähnliche konservative Wurzeln, und Manfred Weber hat intakte Chancen, neuer EU-Kommissionspräsident zu werden. Dass er sich so kritisch äussert, zeigt, dass sich die Haltung der EU zur Schweiz eher verhärtet hat. Den Vorschlag, die Probleme mit dem Rahmenabkommen zu lösen, indem man die Europawahlen abwartet und dann mit der neuen EU-Kommission einen besseren Deal aushandelt, halte ich persönlich daher für riskant.
Was könnten die Folgen sein?
Eine Ablehnung des Rahmenvertrages, wie er jetzt auf dem Tisch liegt, könnte ein ähnliches Resultat bringen wie damals mit dem Staatsvertrag zum Zürcher Flughafen. Damals hatte man auch ein Abkommen ausgehandelt, war auf Schweizer Seite aber unzufrieden mit dem Ergebnis und unterschieb daher nicht. Deutschland setzte dann einseitig Massnahmen in Kraft, die für die Schweiz eine deutlich schlechtere Situation schafften, als es unter dem abgelehnten Abkommen vorgesehen war. Die Ablehnung eines ausgehandelten Abkommens birgt also immer auch das Risiko, dass man bei Neuverhandlungen selbst plötzlich mehr Zugeständnisse machen muss, und man sehr froh wäre, wenn man nochmals das erreichen könnte, was vorher auf dem Tisch gelegen hatte – was dann aber vielleicht nicht mehr möglich ist.
Beim Luftverkehrsabkommen lief alles schief, was schieflaufen konnte. Denken Sie wirklich, dass sich die Ausgangslage derart verschlechtert hat?
Auch jetzt herrscht wieder die Idee vor, man könne das Abkommen noch zugunsten der Schweiz verbessern. Und genau darum darf man nicht unterschätzen, dass in der EU die Sicht dominiert, man sei der Schweiz schon sehr weit entgegengekommen. Auch in der EU gibt es schliesslich rote Linien. Gerade durch den Brexit ist die Thematik der Rosinenpickerei in den Vordergrund gerückt: Staaten, die von Vorteilen profitieren wollen, ohne dass sie bereit sind, die Kosten dafür zu zahlen. Das provoziert bei den anderen Mitgliedstaaten die Frage, warum sie sich an gemeinsame Regeln halten müssen, wenn das Drittstaaten wie die Schweiz nicht tun, und trotzdem Zugang zum Binnenmarkt erhalten. Darum glaube ich auch, dass der Spielraum, nochmals von Grund auf über das Rahmenabkommen zu verhandeln, nur noch theoretisch vorhanden ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man nach fünf Jahren Verhandlungen der Schweiz noch massiv entgegenkommen will.
Dann hat sich auch die Hoffnung vor allem von Schweizer EU-Gegnern zerschlagen, dass der Brexit der Schweiz in den Verhandlungen mit der EU helfen werde.
Ich habe diese Sichtweise ohnehin nie verstanden. Weil die EU zusammenspannt, ist sie einfach viel stärker als einzelne Staaten, selbst so grosse Staaten wie das Vereinigte Königreich. Das ist ja genau der Grund, warum auch kleine Staaten wie Luxemburg, Malta oder Irland bereit sind, einen Teil ihrer Souveränität an die EU zu delegieren. Sie geben zwar einen Teil ihrer Souveränität ab, bekommen dafür aber als EU-Mitglied die Möglichkeit, weltweit mehr Regeln zu setzen. Im Handel ist die EU beispielsweise eine der globalen Regelsetzerinnen oder auch im Datenschutz. Luxemburg oder Irland würden das allein nie schaffen. Alleine schaffen das mittelgrosse Staaten – wie auch Grossbritannien – nicht. Auch Grossbritannien wird in Zukunft internationale Regeln anerkennen müssen, ohne jedoch selbst bei der Regelsetzung stark mitsprechen zu können. Die Grösse gibt der EU ihre Verhandlungsmacht. Gleichzeitig macht sie die EU aber auch so besorgt über mögliche Desintegrationstendenzen. Und dies wiederum macht die EU kompromissloser gegenüber Drittstaaten.