«Die Schweiz ist ein erfolgreicher globaler Nischenplayer geworden»

Ein Jahr lang war die Freisinnige Christa Markwalder Nationalratspräsidentin. Hat sich ihre Sicht auf ihre Heimat verändert? Was macht die Schweiz aus? Wie sieht ihre Zukunft aus?

Christa Markwalder, Nationalratspräsidentin 2015/2016

Sie haben in Ihrem Jahr als Nationalratspräsidentin alle Landesteile der Schweiz bereist und waren oft im Ausland. Wie sehen Sie jetzt die Schweiz?
Wir leben in einem wunderschönen Land, das sich über Generationen ein hohes Wohlstandsniveau erarbeitet hat. Unsere Infrastruktur ist in gutem Zustand und wird laufend erneuert, unsere ausgezeichneten öffentlichen Schulen und unser duales Bildungssystem ermöglichen allen, ihre Chancen zu packen. Die Arbeitslosigkeit und die öffentliche Verschuldung sind tief, wir haben Mitspracherechte und eine Mitsprachekultur, die ihresgleichen sucht. Wir pflegen einen respektvollen Umgang mit sprachlichen Minderheiten, und unsere Gesellschaft hat eine grosse Integrationskraft.

Sie tönen schon fast euphorisch.
Angesichts dieser insgesamt komfortablen Situation werden wir manchmal etwas selbstgerecht und übersehen den Reformeifer in anderen Ländern. Und wir sind uns zu wenig bewusst, was für ein kreativer Unternehmergeist in Ländern mit Aufbruchsstimmung herrscht.

Hat sich Ihr Schweiz-Bild relativiert?
Ich hatte schon immer ein sehr positives Bild unseres Landes, das sich während dieses Jahres noch gefestigt hat. Insbesondere auch, weil wir im Parlament langfristige Weichen stellen konnten mit der Unternehmenssteuerreform III, der Energiestrategie 2050, der Altersvorsorge 2020 oder gewichtige Schritte zur Klärung unseres Verhältnisses mit unserem wichtigsten Handelspartner, der EU, gemacht haben (Stichwort Umsetzung Masseneinwanderungsinitiative oder Kroatien-Protokoll). Doch ist noch nichts definitiv entschieden. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger werden bei einigen dieser grossen Reformschritte das letzte Wort haben. Ich hoffe, dass sie die Beschlüsse des Parlaments unterstützen werden. Mein Schweiz-Bild hat sich nicht verändert, doch ich konnte mein positives Schweiz-Bild ins Ausland tragen.

Sehen Sie die Entwicklung und Geschichte der Schweiz als Sonderfall?
Ja, denn jedes Land ist ein Sonderfall. Diesen können wir nicht einfach für uns reklamieren. Die Schweiz war nie ein Königreich wie unsere Nachbarländer. Die Schweiz hat sich nie während Jahrhunderten aus der Weltwirtschaft verabschiedet wie China vor seiner Öffnung. Wir haben den Religionsfrieden früh gesucht und ein partizipatives demokratisches System geschaffen. Und wir wurden von zwei Weltkriegen glücklicherweise verschont. Hingegen teilen wir dieselben aufklärerischen Werte mit anderen Staaten wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität, sehen uns aber auch mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert, zum Beispiel mit einer alternden Gesellschaft oder einem latenten Unbehagen der Bevölkerung gegenüber Einwanderung.

Was macht die Schweiz eigentlich aus?
Wir kennen Vielfalt auf kleinem Raum. Der Föderalismus fördert den Wettbewerb von Systemen, die Parteienvielfalt den Wettbewerb von Ideen. Wir sind pragmatisch, leistungswillig, kooperativ, gesellig und interessiert an Resultaten. Wir sind international gut vernetzt und verlässlich. Das sind alles Schweizer Qualitäten, die der Schweiz zu Recht einen guten Ruf im Ausland verschaffen.

Was hält das Land zusammen?
Wir haben starke Institutionen und eine prosperierende Wirtschaft dank eines funktionierenden Zusammenspiels international operierender Grosskonzerne sowie kleinerer und mittelgrosser Unternehmen. Der Wohlstand erlaubt es uns, solidarischer zu sein als andere Länder und Gesellschaften, und zwar im In- und Ausland.

Sie sehen also keinen Graben zwischen den Sprachregionen?
Wenn es Gräben gibt in unserem Land, dann weniger zwischen den Sprachregionen, sondern eher zwischen Stadt und Land. Auf der einen Seite haben wir pulsierende Städte wie Zürich, Basel, Lausanne oder das internationale Genf, die Tourismusdestination Luzern und die Bundesstadt Bern. Auf der anderen Seite hat beispielsweise die Gemeinde Horrenbach-Buchen oberhalb von Thun die Masseneinwanderungsinitiative mit 94% angenommen, obwohl dort von 275 Einwohnerinnen und Einwohnern nur gerade 3 Ausländer sind. Als Burgdorferin – und damit auch Emmentalerin – ist es mir ein grosses Anliegen, diese Gräben zu überbrücken, denn die urbanen Zentren profitieren von den ländlichen Gebieten als Erholungsraum und von der kulturellen Vielfalt, währenddessen ländliche Regionen ihren Nutzen aus den Transferleistungen der wirtschaftsstarken und finanzkräftigen Regionen ziehen.

Spannungen zwischen den Generationen nehmen Sie nicht wahr?
Es gibt eine gewisse Kluft zwischen den Generationen, auch wenn die heutige Rentnergeneration ihre Nachkommen unterstützt wie kaum eine zuvor. Sei dies mit Hütediensten der Enkelkinder oder auch finanziell. Hinsichtlich des Abstimmungsverhaltens haben wir hierzulande bei der Masseneinwanderungsinitiative das gleiche Phänomen beobachtet wie in Grossbritannien bei Brexit oder jüngstens bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen: Die junge Generation wurde von der älteren Generation überstimmt. Es bleibt zu hoffen, dass sich bei einer Abstimmung über die Altersvorsorge 2020 der Reformgedanke und die Interessen der jüngeren Generationen und nicht die Besitzstandwahrung des Status quo durchsetzen wird.

Sie erwähnen die US-Wahlen. Analysen zeigen, dass offenbar das Vertrauen breiter Bevölkerungsteile, namentlich der jungen Generation, in die Institutionen und die Elite drastisch gesunken ist. Beobachten Sie eine ähnliche Entwicklung in der Schweiz?
Nein, diese Beobachtung mache ich hierzulande nicht, denn unser System wirkt einbindend und schafft Nähe zwischen Bevölkerung – auch der jungen Generation – und den politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern. Zudem leiden die Jugendlichen in der Schweiz nicht unter Arbeits- und Perspektivlosigkeit wie in anderen Ländern. Wenn sie wollen, stehen ihnen unzählige Türen offen: Unsere Berufsbildung bringt viele innovative Unternehmerinnen und Berufsleute hervor, und die Uni-Abgänger verlassen die Hochschule nicht mit einem Schuldenberg wegen exorbitanter Studiengebühren.

Kein Grund zur Sorge?
Natürlich gibt es auch junge Menschen, die sich auflehnen, auf ihrem Bildungs- oder Berufsweg scheitern oder andere Schicksalsschläge verarbeiten müssen. Unsere Gesellschaft ist jedoch sehr integrativ, und wir versuchen mit verschiedensten Angeboten, diesen Menschen Unterstützung zu bieten und sie nicht einfach sich selbst zu überlassen, wie dies in anderen Staaten häufig der Fall ist. Meine Devise lautet: «Zuerst zuhören, dann realistische Lösungen präsentieren, für diese Lösungen Überzeugungsarbeit leisten und damit politisches Leadership demonstrieren.» Das kann hin und wieder sehr unpopulär sein, aber nur mit Zunicken kommen wir nicht weiter, denn damit bereiten wir politischem Opportunismus und Populismus noch grösseren Nährboden.

Wie kann die Politik die Menschen erreichen?
Am besten im direkten Kontakt und Austausch mit Bürgerinnen und Bürgern, mit ehrlichen Analysen, überzeugenden Argumenten und Wertvorstellungen sowie mit konkreten Zukunftsperspektiven. Ich habe in meinem Präsidialjahr ausserhalb des Parlaments mehr als 100 Reden gehalten. Vom Wert des direkten Kontakts mit den Bürgerinnen und Bürgern bin ich sehr überzeugt – das ist zum Glück in der Schweiz möglich.

Wie wichtig sind Begriffe wie «direkte Demokratie», «Föderalismus» und «Partizipation»?
Sie gehören zu unserem Land als Verfassungskompass, sind sehr wichtig und in den Köpfen und Herzen verankert.

Werden sie wirklich gelebt?
Die Schweizer Bundesverfassung ist so aufgebaut, dass Föderalismus, Volksrechte und damit einhergehende Partizipation und Konsultation – Stichwort Vernehmlassung – gar nicht zur rhetorischen Hülse verkommen können.

Welchen Platz hat unser Land in der Welt?
Wir geniessen ein sehr hohes internationales Ansehen. Während wir lange Zeit eigenbrötlerisch unterwegs waren und zum Beispiel den Frauen bis 1971 kein eidgenössisches Stimm- und Wahlrecht zugestanden oder der UNO erst 2002 als Vollmitglied beitraten, sind wir heute ein Land mit Vorbildcharakter für viele Staaten: dank unseres dualen Berufsbildungssystems und der tiefen Jugendarbeitslosigkeit, dank unseres prosperierenden Wirtschaftsstandorts und des guten Zusammenspiels zwischen global engagierten Konzernen und lokal verankerten KMUs, dank finanzieller Disziplin und dank unserer humanitären Tradition und unserer Vermittlungsfähigkeit auf der internationalen Bühne. Die Schweiz ist ein erfolgreicher globaler Nischenplayer geworden.

Die Schönheit der Karten

Ein neuer historischer Atlas der Schweiz.

«Der Föderalismus ist eine Ideenküche»

Gaby Szöllösy, Generalsekretärin der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), erklärt, was wir bei aller Kritik über den Kantönligeist nicht vergessen sollten und weshalb es gut ist, dass die Kantone noch immer über sehr viel Macht verfügen.

Unsere Souveränität als Elefant im Raum

"Ein Blick in die Geschichte hilft", verspricht André Holenstein eingangs des zweiteiligen Buches von ihm und Thomas Cottier zum Verhältnis der Schweiz mit Europa.

«Die Basis ist Bildung»

Ständerat Matthias Michel (FDP.Die Liberalen, Zug) darüber, worauf wir achten müssen, um Innovation in der Schweiz zu sichern und warum das Crypto Valley weltweit führend ist

Weshalb die Flut an negativen News auf die Psyche schlägt

Drei Tipps, um der Weltuntergangsstimmung zu entkommen.

Conradin Cramer: «Politik kann man lernen»

«Täglich grüsst das Murmeltier» oder wie man Regierungsrat wird - ein Handbuch

Digitales Business und die Frauen

Eine repräsentative Umfrage zeigt, wo die grössten Herausforderungen der Verwaltungsräte liegen.

Starlink und GPS-Daten – das macht die Artillerie der Ukraine stark

Angesichts der russischen Übermacht sind die Ukrainer gezwungen, auf militärische Innovation zu setzen.

«Die Diskussion ist unglaublich konservativ»

Medienprofessor Manuel Puppis erklärt, warum die SRG im digitalen Zeitalter mehr Geld bekommen sollte.