«Vor 20 Jahren hätte eine zweisprachige Beschriftung des Bahnhofs Fribourg/Freiburg zu einem halben

Thierry Steiert, Stadtpräsident der zweisprachigen Stadt Freiburg, erklärt, wie Französisch und Italienisch gefördert werden sollen und wie der Sprachenstreit in der Schweiz beendet werden könnte.

Thierry Steiert, Stadtpräsident der Stadt Freiburg.

En quelle langue allons-nous parler?
Thierry Steiert: Ca ne joue pas de rôle. Mais comme nous sommes les deux gérmanophones, nous pouvons parler en allemand.

D’accord. Sie sind ebenfalls bilingue?
Bei uns zu Hause sprachen wir nur Französisch. Meine Mutter war bilingue, mein Vater eher deutschsprachig. Doch zu Hause war die französische Sprache eine Prinzipiensache. Wir besuchten allerdings die deutschsprachige Schule, so dass ich zweisprachig aufwuchs. Ein Riesenvorteil.

Wie wirkt sich diese Zweisprachigkeit in einer Stadt wie Fribourg oder Freiburg aus?
Wir befinden uns auf der Sprachgrenze. Ohne Deutsch kann man in dieser Stadt und in diesem Kanton gut überleben, ohne Französisch geht es aber nicht.

Französisch ist also die wichtigere Sprache.
Genau. Wenn man jedoch Deutsch und Französisch beherrscht, hat man grosse Vorteile.

Ist es nicht schwierig, wenn eine Sprache dominanter ist?
Natürlich ist dies ein Thema – seit jeher. Was ist die Sprachgrenze genau: eine klare Trennlinie, eine Grauzone? Bewegt sich diese Grenze? Es gibt auf beiden Seiten Ängste.

Inwiefern?
Beispielsweise bei den Französischsprachigen besteht die Angst, dass sie germanisiert würden. Denn durch die steigende Mobilität ziehen mehr Leute aus Bern nach Freiburg. In gewissen Kreisen gibt es eine regelrechte Aversion gegen alles Deutschsprachige.

In welchen?
Namentlich bei älteren Personen. Es gibt aber auch Jüngere, die von diesem antigermanischen Geist erfasst sind, allerdings sind sie in der Minderheit. Die Jungen sehen diese Frage heute weit entspannter. Sie realisieren, dass es ein Vorteil ist, wenn sie sich gegenüber der Deutschschweiz öffnen.

Zwei Sprachen, zwei Kulturen?
Das sieht man überall. In der Justiz beispielsweise sind die beiden Kulturen ausgeprägt. Während die frankophonen Anwälte nach wie vor an den alten Zöpfen wie den Roben und Titeln wie «Maître» hängen, legen die deutschsprachigen Juristen viel weniger Wert auf solche Formalitäten und Äusserlichkeiten. Auch in den Schulen sind die Unterschiede frappant. So gibt es im Kollegium St. Michael oder Collège St-Michel eine französische und eine deutsche Abteilung mit unterschiedlichem Unterricht und einer unterschiedlichen Kultur.

Was können Sie als Stadtpräsident unternehmen, damit diese beiden Kulturen nicht auseinanderdriften?
Ich sehe es vielmehr als eine Chance, dass wir an einer Sprachgrenze leben. In einer solchen Situation hat man zwei Optionen: Entweder man baut eine virtuelle Mauer zwischen beiden Kulturen auf und lebt indifferent aneinander vorbei. Oder man ergreift diese unglaubliche Chance und erkennt alle die Vorteile und Möglichkeiten, welche diese beiden Kulturen bieten. Im idealen Fall verbindet man die positiven Seiten beider Kulturen, so dass etwas Neues, etwas Grossartiges entstehen kann.

Reicht es, wenn der Bahnhof und die Strassen zweisprachig beschriftet werden?
Das reicht nicht, das ist eher Symbolik – aber nicht zu vernachlässigen. Vor 20 oder 30 Jahren hätte eine zweisprachige Beschriftung des Bahnhofs Fribourg/Freiburg zu einem halben Bürgerkrieg geführt.

Ernsthaft?
Absolut. Es gab zwei Vereine, die «Communauté Romande de Pays de Fribourg» und die «Deutschfreiburgische Arbeitsgemeinschaft», die heftig aufeinander losgingen, zum Glück nur verbal. Doch diese Zeiten sind vorbei. Viel wichtiger für uns ist die konkrete Öffnung in den Köpfen.

Was ist passiert?
Nicht nur die Stadt hat sich geöffnet, sondern der ganze Kanton. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der es noch letzte Spuren des Freiburger Obskurantismus gab. Man verschloss sich gegen alles, was von aussen kam. Vergessen Sie nicht: Freiburg war eine katholische Bastion, umgeben von protestantischen Kantonen. In den letzten Jahrzehnten haben sich diese konfessionellen und sprachlichen Grenzen dank der Mobilität immer mehr aufgeweicht, so dass die gegenseitigen Animositäten und Ängste stark in den Hintergrund getreten sind.

Was kann eine Stadtverwaltung für die Förderung der Zweisprachigkeit unternehmen?
Man spricht beide Sprachen. Lange Zeit gab es keinen deutschsprachigen Vertreter in der Stadtregierung, so dass es kaum Anfragen von deutschsprachigen Medien gab. Heute sind wir zwei Deutschsprachige in der Regierung, das ist ein Quantensprung. Natürlich kann man das nicht steuern, das ist letztlich das Resultat der Wahlen, also bis zu einem Stück weit auch Zufall. Im beruflichen Alltag spreche ich mit den Deutschsprachigen Deutsch und mit den Französischsprachigen Französisch. Bei wichtigen Dokumenten achten wir darauf, dass es jeweils eine Zusammenfassung in der anderen Sprache gibt. Die Amtssprache in Freiburg ist offiziell immer noch Französisch. Das Amtsblatt ist zweisprachig, ebenso der Schulunterricht, doch weiter will man in der Politik nicht gehen.

Aus Angst vor der Germanisierung?
Diese Angst ist mancherorts immer noch vorhanden, doch es geht auch darum, die Administration nicht unverhältnismässig zu belasten. Deshalb müssen wir in der Regierung die richtigen und wichtigen Signale aussenden und die Zweisprachigkeit vorleben. Unsere Identität muss zweisprachig sein. Deshalb achten wir bei der Anstellung von Personal darauf, dass bei gleicher Qualifikation der zweisprachige Kandidat die Stelle kriegt. Bis Freiburg eine wirklich zweisprachige Identität hat wie Biel/Bienne, dauert es noch eine gewisse Zeit.

Ist das die Vision des Stadtpräsidenten?
Nicht nur des Stadtpräsidenten, sondern der gesamten Stadtregierung. Meine vier Kollegen und ich ziehen am gleichen Strick.

Das Ziel ist eine zweisprachige Identität.
Es geht nicht darum, dass alle Einwohnerinnen und Einwohner zweisprachig werden, das wäre illusorisch. Wir sind aber bereits eine zweisprachige Stadt, obschon Deutsch noch keine offizielle Amtssprache ist. Mental sind wir absolut auf dem Weg dazu.

Sträuben Sie sich gegen Deutsch als zweite Amtssprache?
Nein, nicht grundsätzlich. Juristisch und finanziell ist dies aber doch ein grosser Schritt, und da stellt sich die Frage, ob eine Stadt mit 40’000 Einwohnerinnen und Einwohnern die kritische Masse für einen solchen Schritt hat. Allerdings haben wir den teuersten Integrationsschritt schon gemacht. In Freiburg kann man die gesamte Schulzeit zweisprachig absolvieren.

Freiburg fördert die Zweisprachigkeit in der Schule. In der Deutschschweiz diskutiert man über Sinn und Zweck von Frühfranzösisch. Verstehen Sie die Aufregung?
Ja, die verstehe ich schon. Das zehrt an der nationalen Identität. Man gibt die sprachliche Minderheit auf, wenn der Kanton Thurgau sagt, Englisch sei nun wichtiger als Französisch. Dadurch wird das System Schweiz aufgeweicht.

Ist es falsch, die Weltsprache Englisch möglichst früh zu fördern?
Ich persönlich bin der Ansicht, dass man im Gegenteil die italienische Sprache fördern sollte. Durch die Musik, das Internet und die Werbung kommt das Englisch sowieso. Die Kantone sollten den nationalen Zusammenhalt nicht unnötig gefährden, vielmehr sollte man ihn in einem internationalen, globalisierten Umfeld erst recht stärken. Deshalb wäre es begrüssenswert, man würde nicht nur die erste Fremdsprache fördern, sondern auch die zweite.

Sie sind ein Romantiker.
Überhaupt nicht. Italienisch ist ebenfalls eine grosse Sprache in Europa. Italien ist ein wichtiges Nachbarland und bedeutender Handelspartner. Ich finde es wichtig, dass das System Schweiz auch sprachlich in den Köpfen verankert ist.

Weshalb verabschieden sich gewisse Deutschschweizer Kantone dennoch vom Französisch?
Englisch nimmt immer mehr überhand in unserer Alltagssprache. Deshalb ist es auch wichtig, dass unsere junge Generation die englische Sprache beherrscht und braucht. Je früher, desto besser.

Jetzt widersprechen Sie sich.
Nein, denn die englische Sprache lernt man automatisch. Zudem belegen Studien, dass wer mit zwei Sprachen aufwächst, eine dritte wesentlich einfacher lernt. Wenn Sie eine romanische und germanische Sprache beherrschen, also Französisch oder Italienisch und Deutsch, kommt Englisch sozusagen wie ein Geschenk dazu, weil es eine Mischung beider ist.

Was müsste getan werden?
Die deutschsprachigen Kantone müssten dazu animiert werden, Französisch als prioritäre Fremdsprache zu behalten. Handkehrum müssten sich die französischsprachigen Kantone viel stärker dazu verpflichten, die deutsche Sprache richtig zu fördern. Denn die Aversion gegen das Deutsche ist in der Romandie immer noch stark ausgeprägt.

Also wiederum die Angst vor der Germanisierung?
Diese manifestiert sich nur entlang der Sprachgrenze, zum Teil auch im Jura. Was meiner Meinung nach eine grössere Rolle spielt: Die Franzosen und Frankophonen sind ausgesprochene Sprach-Chauvinisten. Sie denken, dass sie keine andere Sprache zu beherrschen brauchen. Das beobachtet man auch bei den Anglophonen. Die deutsche Sprache in einem Genfer oder Lausanner Gymnasium geniesst höchstens den Status eines Orchideenfachs.

Wie kann man diese mentale und sprachliche Blockade aufheben?
Austausch und noch mehr Austausch.

Das frühere Welschlandjahr gibt es nicht mehr.
Man muss neue Austauschprogramme auf die Beine stellen und fördern. Das kostet, ist mühsam und schwerfällig. Aber wenn die Programme einmal stehen und zu greifen beginnen, merkt man, wie bereichernd sie für alle sind. Man kann zum Beispiel ein zehntes Schuljahr im anderen Sprachraum absolvieren. Oder Primarklassen sollten ihre Lager im anderen Sprachraum durchführen, verbunden mit spielerischem Sprachunterricht. Es gibt auch Modelle, in denen die eine Halbklasse aus der Deutschschweiz eine Zeitlang in der Westschweiz zur Schule geht und vice versa. Da ist vor allem die Konferenz der Erziehungsdirektoren gefordert. Das kostet Geld und benötigt den politischen Willen.

Diesen scheinen Sie zu vermissen.
Ja. Wenn man verhindern möchte, dass der Thurgau sich noch mehr vom Französisch verabschiedet, muss man den Kanton und seine Schulkinder mehr an die Romandie binden durch solche Programme. Austausche entfalten immer eine positive Wirkung, auch langfristig.

Möchten Sie als zweisprachiger Stadtpräsident eine Art Sprachenbotschafter der Schweiz werden?
Das wäre wohl vermessen. Allerdings stelle ich fest, dass gerade die nationalen Medien, namentlich aus Zürich, vermehrt auf mich zukommen und wissen wollen, was ich von der Sprachendiskussion in der Schweiz halte und wie wir in Freiburg damit umgehen. Ich bin auch im Städteverband Schweiz engagiert, und gerade die sprachpolitische Auseinandersetzung mit anderen Stadtpräsidenten ist sehr fruchtbar.

Haben Sie das Gefühl, dass die Idee Schweiz gefährdet sein könnte, wenn man den vier Landessprachen nicht mehr Sorge trägt?
Das halte ich für übertrieben. Ich war positiv überrascht, wie sich am diesjährigen Eidgenössischen Schwingfest plötzlich Tausende von Welschen für das Fahnenschwingen und Steinstossen begeisterten. Da kommt die Magie der Schweiz voll zum Ausdruck. Die Idee Schweiz wird den angeblichen Sprachenstreit, den es notabene schon immer gegeben hat, überdauern. Gleichwohl sollten wir der französischen, italienischen und rätoromanischen Sprache Sorge tragen. Sie sind in jeder Hinsicht eine grosse Bereicherung für unser Land.

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