«Die neuen Technologien werden noch viel mehr können – aber nicht alles»

Der britische Jurist und Digitalisierungsexperte Richard Susskind äussert sich zu den Folgen auf die Arbeitswelt. Im Gespräch erklärt er, warum nun Wissensarbeiter wie Juristen, Treuhänder, Ärzte, Buchhalter, Banker oder Berater besonders herausgefordert sind.

Richard Susskind, britischer Jurist und Digitalisierungsexperte.

Sie analysieren, wie sich die Technologie auf die Arbeitswelt auswirkt, insbesondere auf hochqualifizierte Jobs. Was stellen Sie fest?
Es gibt zwei Reaktionen: Die eine Gruppe sind die sogenannten Zulieferer von Wissen wie Ärzte, Anwälte oder Berater. Sie gingen lange davon aus, dass ihre Jobs sakrosankt seien, dass ihr Wissen und ihre Expertise nicht automatisiert werden könnten. Allmählich beginnen sie zu realisieren, dass die Digitalisierung auch für sie immer gravierendere Konsequenzen hat, und blicken besorgt in die Zukunft. Die andere Gruppe sind die Konsumenten, die von den neuen Technologien profitieren. Produkte und Dienstleistungen werden besser, billiger, einfacher und benutzerfreundlicher. Die neuen Technologien liefern letztlich einen wesentlich besseren Service, der die Konsumenten zufriedener macht. Die Qualität nimmt zu.

Sie fokussieren sich auf die positive Sicht der Technologisierung.
Für die Konsumenten ist die Digitalisierung ein Segen. Global nimmt das Wissen laufend zu, wird miteinander vernetzt, ist ständig verfügbar und wird billiger. Alle können daran teilhaben und profitieren von besseren, günstigeren und massgeschneiderten Produkten und Dienstleistungen. Das erachte ich als positiv.

Das ist die eine Seite der Medaille. Gleichzeitig werden Arbeitsschritte immer mehr von Robotern, Algorithmen und künstlicher Intelligenz erledigt – auf Kosten der Menschen.
Werfen wir einen Blick zurück in der Geschichte. Die Konsumenten haben immer von Technologiesprüngen profitiert. Güter wurden massenweise hergestellt, Fliessbandarbeiter durch Maschinen ersetzt, die Produkte besser und günstiger. Nachdem die Produktion automatisiert wurde, sind es jetzt die Berufe.

Dabei werden auch die Jobs der Wissensarbeiter, der sogenannten White Collars, automatisiert, so Ihre These.
Das ist der fundamentale Wandel, der gegenwärtig stattfindet. Lange Zeit wurde diese Entwicklung unterschätzt und zu wenig beachtet.

Wie wirkt sich das konkret aus?
Nehmen wir die Anwaltskanzlei, für die ich arbeitete. Als Vorbereitung auf eine Gerichtsverhandlung lasen sich die Juniors durch Millionen von Dokumenten. Heute erfolgt die Recherche weitestgehend automatisiert über Systeme. Auch die Art, wie wir kommunizieren, hat sich gewandelt. In den 1990er-Jahren benutzte ich als Anwalt keine E-Mails im Kontakt mit meinen Kunden. Das war tabu, ebenso die Benutzung des World Wide Web oder der sozialen Plattformen für eine Recherche. Wenn die Kanzlei im Vorfeld einer Firmenübernahme die Risiken prüft, also die sogenannte Due Diligence durchführt, kommt heute selbstverständlich eine Software zum Einsatz, auch bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeit, ob man einen Prozess gewinnt oder verliert. Doch das ist erst ein technologisches Warmlaufen.

Wie bitte?
Die Maschinen und die Systeme werden immer besser und übernehmen Aufgaben, die früher nur Anwälte oder Ärzte erledigen konnten. Sämtliche Wissensarbeiter sind von dieser Entwicklung erfasst. Für die Analyse von grossen Datenmengen sind Maschinen zuverlässiger und leistungsfähiger. Wir sehen dies in allen Branchen: Im Recht, in der Medizin, der Buchhaltung, der Verwaltung, im Banking… Nach einer ersten Phase der kategorischen Verweigerung beginnen die Wissensarbeiter allmählich zu realisieren, dass auch sie von dieser Entwicklung erfasst werden.

Wie charakterisieren Sie diese zweite Phase?
Es gibt ein Merkmal, das für sämtliche Branchen und alle Unternehmen zutrifft: Der Kosten- und der Wettbewerbsdruck. Die globale Frage lautet: Wie kann man die Kosten reduzieren? Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: Man lagert Arbeiten in Länder mit niedrigeren Lohnkosten aus oder man ersetzt Prozesse durch Maschinen und Software.

Was heisst das für die nächsten Jahre.
In den 2020er-Jahren werden viele neue Technologien auf den Markt kommen, die auf künstlicher Intelligenz basieren. Das sind in erster Linie selbstlernende Systeme, die in der Lage sind, sich selber Arbeitsschritte beizubringen und sich permanent zu verbessern. Dadurch werden immer mehr standardisierte Prozess und Routinearbeiten durch Maschinen erledigt, die heute von Menschen gemacht werden. Diese Entwicklung passiert nicht von einem Tage auf den anderen, sondern schleichend. Es werden immer noch Menschen für diese Aufgaben benötigt, aber immer weniger. In zwanzig und dreissig Jahren werden zahlreiche Jobs, die heute noch selbstverständlich sind, nicht mehr existieren. Anstatt von «de-employment» spreche ich lieber von «re-employment».

Das müssen Sie erklären.
Die Unternehmen werden nach wie vor Arbeitskräfte benötigen, aber für neue Aufgaben. Deshalb müssen sich die Menschen permanent weiterbilden, neue Fertigkeiten und Techniken erlernen und vor allem flexibel sein. Wenn Sie beispielsweise als Berater tätig sind und Ihre Tätigkeit zusehends automatisiert wird, stellt sich die Frage: Was wünschen die Kunden genau? Wie wird das Wissen konsumentengerecht aufbereitet? Und auf welchen Kanälen? Die Ausbildung und das Know-how der Berater sind nicht plötzlich nichts mehr wert. Vielmehr wird dieses Wissen neu interpretiert und anders gebraucht. Auf diese Weise werden in naher Zukunft zahlreiche neue Jobprofile entstehen. Deshalb spreche ich von «re-employment» und nicht von «de-employment». Das ist meine Prognose für die 2020er-Jahre.

Und für die Jahre danach?
Es stellt sich die Frage, ob in zwanzig und dreissig Jahren genügend neue Aufgaben und Jobprofile entstehen.

Ihre Antwort? Denn die Arbeit ist für das gesellschaftliche und das wirtschaftliche Leben essenziell.
In der Tat: Wie werden wir beschäftigt bleiben? Einen Teil der Menschen, wie Sie und ich, arbeiten gerne, weil uns der Job Freude macht. Deshalb fällt es uns leicht, uns über die Arbeit zu definieren. Aber die meisten Menschen arbeiten, um zu überleben, dazu häufig zu einem bescheidenen Einkommen. Mit der Digitalisierung und der Automatisierung der Gesellschaft werden wir mit einer philosophischen Frage konfrontiert: Was ist eigentlich ein sinnvolles Leben? Vielleicht müssen wir uns von der Idee der Erwerbsarbeit verabschieden. Vielleicht stellen wir fest, dass es sinnvoller wäre, unsere kurze Zeit auf Erde mit Musik, Kunst, Bildung oder Handwerk zu verbringen.

Unsere Volkswirtschaft beruht aber auf Erwerbsarbeit. Wenn dieses Konzept durch die Technologie fundamental in Frage gestellt wird – wovon soll der Mensch dann leben?
Wie gesagt, die Frage stellt sich nicht heute oder morgen, aber übermorgen. Deshalb müssten wir heute schon ein paar grundsätzliche Überlegungen anstellen. Sie haben sich in der Schweiz mit dem bedingungslosen Grundeinkommen auseinandergesetzt und darüber abgestimmt. Ich sage nicht, dass dieses Konzept richtig oder falsch ist, aber es ist wichtig, dass wir über neue Formen der Arbeit, der Volkswirtschaft und des Zusammenlebens nachdenken und diskutieren. Denn mit der Technologisierung werden sich die Arbeit und die Gesellschaft radikal verändern. Mein Anliegen ist es, eine Debatte auszulösen, damit die Leute darüber nachzudenken beginnen. Ich möchte verhindern, dass Firmenchefs und Manager glauben, diese Entwicklung tangiere ihr Unternehmen nicht. Die technologische Entwicklung ist unaufhaltbar. Natürlich dauert es vier bis fünf Jahre, bis diese Technologien marktfähig werden. Doch in fünfzehn Jahren werden sie ihre volle Wirkung auf die Gesellschaft entwickelt haben.

Was empfehlen Sie heutigen Jugendlichen? Wie können sie sich auf das Zeitalter der Maschinen vorbereiteten?
Für sie stellen sich zwei Fragen: Möchten die Jugendlichen im Wettbewerb stehen zu den künftigen Maschinen? Oder möchten sie selber diese Maschinen bauen?

Können Sie das konkretisieren.
Diese Maschinen können schon vieles und werden noch viel mehr können. Aber nicht alles. Genau hier entstehen neue Tätigkeiten und Jobprofile, die sich permanent anpassen und verändern. Die zweite Möglichkeit ist, man programmiert selber Algorithmen, macht die künstliche Intelligenz noch intelligenter und baut noch bessere Roboter und Maschinen.

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Mensch und Maschine?
Die Maschine erzielt weit bessere Ergebnisse als der Mensch, aber auf unterschiedliche Weise.

Der Mensch kann ein Urteil fällen, die Maschine nicht.
Beim Menschen ist jedes Urteil mit einer Ungewissheit behaftet, bei der Maschine nicht. Der Fehler ist zu glauben, dass der Mensch denkt und fühlt, die Maschine nicht, weswegen sie keine Probleme lösen kann und weder kreativ noch intuitiv ist.

Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir eine grosse Firma, die vor Gericht muss. Die Frage, die jeder CEO stellt, ist: «Wie gross sind unsere Chancen zu gewinnen?» Als Anwalt studiert man vergleichbare Fälle, konsultiert die Literatur, durchforstet Bibliotheken und Archive, diskutiert mit vielen Leuten und gibt dann eine Antwort. Mit heutigen Maschinen kann man Prognosen erstellen, die auf der Auswertung von statistischem Material beruhen. Die Maschine weiss zwar überhaupt nichts über Rechtsprechung, berechnet aber etliche Parameter anhand verfügbarer Daten: die Grösse des Falls, vergleichbare Prozesse oder die Performance der involvierten Personen wie Richter, Staatsanwälte oder Verteidiger. Diese Voraussage ist wesentlich präziser als jene des Anwalts. Niemand sagt, dass die Maschine ein guter Anwalt ist, doch die Informationen sind wesentlich präziser und aussagekräftiger. Und das ist genau das, was die Kunden wollen: gute, vertrauenswürdige Aussagen. Das gilt für die Beratung ganz allgemein. Je präziser das Resultat, desto höher das Vertrauen. Erhalten wir diese Informationen über einen Menschen oder über eine E-Mail zur Hälfte des Preises, dann entscheiden wir uns klar für die Maschine.

Bill Gates, Elon Musk und Stephen Hawking haben also Recht, wenn sie die künstliche Intelligenz als grösste Bedrohung der Menschheit ansehen.
Das ist die eine Position. Deren Vertreter fürchten sich davor, dass Mensch und Maschine immer mehr verschmelzen und letztlich die Maschine überhand nehmen wird. Die andere Position geht davon aus, dass eine Maschine nie den Menschen ersetzen wird, dass Empathie und Kreativität die Einzigartigkeit des Menschen ausmachen und nie von einem Algorithmus gelernt werden können. Mein Sohn Daniel und ich nehmen in unserem Buch eine pragmatische Position ein. Es bringt nichts, den Teufel an die Wand zu malen oder den technologischen Wandel, dessen Möglichkeiten und Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Arbeitswelt zu ignorieren. Polarisierungen bringen nichts. Es ist zielführender, das Positive zu übernehmen. Die gesamte Technikgeschichte ist eine Geschichte des Fortschritts, die der Menschheit insgesamt mehr Wohlstand gebracht hat. Das ist unser Ansatz.

Richard und Daniel Susskind: «The Future of the Professions: How Technology Will Transform the Work of Human Experts», Oxford University Press 2015. 

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