«Die Schmerzgrenze ist noch nicht erreicht»

Der neue Gotthard-Basistunnel darf nicht darüber hinwegtäuschen – die Mobilität nimmt zu und wird immer teurer. ETH-Professor und Verkehrsexperte Kay Axhausen sagt weshalb und zeigt, was aus die Schweiz zukommt.

Kay Axhausen, Professor am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme an der ETH Zürich.

Eigentlich sollten Sie nie mehr im Stau stehen.
Kay Axhausen: Doch, man steht immer im Stau.

Aber als Verkehrs- und Mobilitätsexperte der ETH Zürich müssten Sie wissen, wie sich die Leute verhalten und wie Staus entstehen. Sie könnten sie also umgehen.
So einfach ist das nicht. Wenn Sie nachts um zwei Uhr von zuhause losfahren und um 4 Uhr wieder nach Hause kommen, haben Sie keinen Stau. In dem Moment, in dem Sie sich dem Zeitrhythmus aller anderen Verkehrsteilnehmer anpassen, geht es praktisch nicht ohne Stau in einer Region, die halbwegs dicht besiedelt ist. Sie können schon ohne Stau leben, dann müssten Sie aber in den Jura oder ins Münstertal ziehen.

In Städten und Agglomerationen ist Stau also unvermeidbar.
Er ist unvermeidbar. Es sei denn, man ist bereit, extrem viel Geld für das Verkehrssystem auszugeben, für mehr Strassen und mehr Schienen. Das Problem ist jedoch, dass diese zusätzlichen Verkehrskapazitäten ausserhalb der Spitzenstunden vollkommen ungenutzt bleiben, aber immer noch kosten.

Was heisst das nun?
Man muss akzeptieren, dass sich die Reisezeiten in den Spitzenstunden erhöhen. Und man muss sich die Frage stellen, ab wann die Staus derart zu stören beginnen, dass man in die Verkehrsinfrastruktur investiert oder diese regelt.

Seit Jahren plädiert man für Home Office und flexible Arbeitszeiten, um eben diese Spitzen zu brechen. Getan hat sich offenbar wenig, denn die Stosszeiten sind immer noch dieselben und die Staus gehen nicht zurück.
Es kann weltweit beobachtet werden, dass sich die Spitzenzeiten etwas abflachen und ausdehnen. Man spricht von «peak spreading». Der Arbeitstag in der Schweiz beginnt heute nicht mehr zwischen 7.30 und 8 Uhr wie noch vor 20 Jahren, sondern zwischen 7 und 9 Uhr. Da hat sich schon etwas verändert – und wird sich noch ändern.

Gleichwohl nehmen die Staustunden zu.
Der Stau ist eine subjektive Wahrnehmung. Diese ist abhängig von der Gewohnheit und der Erwartung. Wenn Sie in einer kleinen Stadt oder einem Dorf wohnen, ist ein Geschwindigkeitsverlust von zwei, drei Kilometern in der Spitzenstunde bereits sehr viel, während sich ein Autofahrer in einer Grossstadt oder einer Agglomeration nicht darüber aufregt. Das ist für ihn normal.

Weshalb wächst eigentlich die Mobilität?
Der wachsende Wohlstand führt erstens dazu, dass mehr Leute in der Lage sind, das Auto zu wählen, das immer noch das schnellere Verkehrsmittel ist als der öffentliche Verkehr. Zweitens nimmt die Bevölkerung zu. Drittens spielt eine Rolle, wie das Verkehrssystem gesteuert ist. Hier hat man als Ingenieur die Möglichkeit, den Zeitbedarf auf einer Strecke zu erhöhen oder zu senken, je nach politischem Willen. Und viertens stellt sich die Frage, ob eine Stadt oder eine Region genügend Verkehrskapazität zur Verfügung stellt und in welches System die Politik investiert: in Strasse, Eisenbahn, Strassenbahn oder Bus.

Wie steuert die Schweiz ihr Verkehrssystem?
Sie hat in den letzten 50 Jahren auf beide Systeme gesetzt und sowohl den Strassenverkehr als auch den öffentlichen Verkehr kontinuierlich ausgebaut.

Im Zusammenhang mit der Masseneinwanderungsinitiative war viel von «Dichtestress» die Rede. Trifft das auch für das Verkehrssystem zu?
Auch das ist eine Wahrnehmungsfrage. Wenn Sie aus New York oder Tokyo nach Zürich kommen, sagen Sie: «Ach, ist das nett hier.» Stau ist wie gesagt immer auch eine subjektive Angelegenheit. In den Spitzenzeiten ist das Verkehrsaufkommen einfach höher – ausser man ist bereit, die Autos aus den Städten rauszuhalten über Lichtsignalanlagen, wie das zum Teil in Zürich geschieht – oder über den Preis.

Sie sprechen von der Maut.
London, Singapur oder Stockholm haben Mautsysteme eingeführt. Oder man kann die Menge der Autos reduzieren, indem man den Besitz eines Autos über Steuern verteuert, was in Singapur oder Dänemark der Fall ist.

Das dürfte in der Schweiz kaum mehrheitsfähig sein.
Das denke ich auch.

Der Schweiz galt punkto öffentlichen Verkehr lange als Pionierin. Weshalb?
Einerseits sicher wegen des systematischen Ausbaus des öV, anderseits wegen dessen vergleichsweise hoher Nutzung. Zudem gilt die Schweiz als Vorbild, wie die öffentliche Hand die Eisenbahn mitfinanziert. Zu den grossen Leistungen zählen überdies der Taktfahrplan und die Bahn 2000.

Und der Gotthard-Basistunnel, der am 1. Juni eröffnet wird – knüpft er an die Tradition der visionären Projekte an?
Der knapp 60 Kilometer lange Tunnel ist ein phantastisches Bauwerk und ein grosser Beitrag der Schweizer Verkehrspolitik. Er verbindet den Norden mit dem Süden Europas. Aus nationaler Sicht ist er zudem ein wichtiges Bindeglied zwischen der deutschsprachigen und der italienischsprachigen Schweiz. Aber man darf nicht vergessen, in absoluten Mengen ist die Zahl der Fahrten durch den Gotthard-Basistunnel klein im Vergleich zum Verkehr, der täglich zwischen Genf und Lausanne oder Zürich und Bern anfällt und zunimmt.

Gilt die Schweiz verkehrstechnisch weiterhin als beispielhaft?
Sie baut weiter an ihrer Verkehrsinfrastruktur. Doch muss man sich vergegenwärtigen, dass die Zeit der billigen Kapazitätserweiterungen vorbei ist. Alles, was jetzt neu dazukommt, wird teurer werden. Der neue Durchgangsbahnhof Löwenstrasse in Zürich hat wesentlich mehr gekostet als der S-Bahn-Tunnel. Die Einführung des European Train Control Systems (ETCS) ist teurer als die vorherige Technologie. Auf der Strassenseite ist es genau gleich: Jede neue Strecke, jeder neue Tunnel wird teuer. Insgesamt ist die Schweiz immer noch beispielhaft, weil sie durch die systematische Mitfinanzierung des öV durch die öffentliche Hand der Bevölkerung eine sehr gute Alternative zur Verfügung stellt. Doch selbst diese sehr gute Alternative ist immer noch deutlich langsamer als das Auto.

Einspruch: Die Strecke zwischen Zürich und Bern tut sich zu Spitzenzeiten niemand mehr im Auto an.
Das stimmt. Auch zwischen Zürich und Basel oder Genf und Lausanne sind Sie mit dem Zug schneller. Doch gehen Sie einmal vom Tessin ins Berner Oberland oder von Bassersdorf nach Thun. Ich wage zu bezweifeln, dass sie mit dem öV schneller sind.

Da gäbe es noch Potenzial.
Ja, sehr teures Potenzial. Der Ausbau der Infrastruktur hängt immer von drei Faktoren ab: Von den Kosten, vom effektiven Nutzen und vom politischen Willen.

Welches sind die grössten Probleme des Verkehrssystems Schweiz?
An erster Stelle würde ich die langfristige Finanzierung nennen, ganz unabhängig vom Streit um die Milchkuhinitiative. Das bestehende System muss aufrechterhalten und ausgebaut werden. Das benötigt Geld.

Wie könnte eine künftige Finanzierung aussehen?
Eine Herausforderung werden die elektrischen Autos darstellen. Denn mit jedem Liter Benzin wird über die Steuer die Verkehrsinfrastruktur mitfinanziert. Mit den Elektromotoren fällt dies weg. Also braucht es Alternativen.

Welche?
Schon heute ist es beispielsweise möglich, jeden gefahrenen Kilometer zu verfolgen. Man baut ein GPS-Gerät in das Auto ein und stellt das gesamte öV-System auf Smartcards um. Mit diesen Technologien kann jede Minute und jeder Kilometer im Auto, im Zug, im Tram, im Schiff oder in der Gondel registriert werden. Wir können die Gesamtnutzung erfassen. Die Frage ist, was wir dann bezahlen.

Gibt es schon Lösungen?
Man müsste für jeden Kilometer einen Preis definieren, der es den Betreibern und Besitzern ermöglicht, eine Strecke kostendeckend zu betreiben. Dann drängt sich die Frage auf, wie wir jene Linien und Strecken subventionieren, die sich nicht kostendeckend betreiben lassen. Es gibt erste Versuche, die in diese Richtung gehen.

Wird das in 20 Jahren Realität sein?
Es ist eine Möglichkeit, die kommen könnte. Allerdings ist es noch alles andere als klar, wer die Daten, respektive die allsehende zentrale Intelligenz verwaltet und kontrolliert. Dieser immense Datenpool macht jetzt schon Angst, und zwar nicht nur den Datenschützern, sondern auch all jenen Personen, die nicht jeden Schritt messen und registrieren lassen wollen. Datenschutz ist ein riesiges Thema, auch in der Mobilität.

Welches sind die weiteren Probleme im Verkehrssystem Schweiz?
Neben der Finanzierung gibt es zweitens Strecken, in denen Belastungen hinsichtlich Stau und Zeitverlust wirklich gross sind. In vielen Fällen hat die Bevölkerung keine Möglichkeit, diesen Spitzenzeiten auszuweichen, auch wenn man versucht, diese auszudehnen. Da gibt es Grenzen der Anpassungsfähigkeit. Drittens stellt sich die Frage, wie die Schweiz die autonomen Fahrzeuge in ihr Verkehrssystem integrieren kann. Und viertens gibt es auf dem Eisenbahnnetz gewisse Strecken, auf denen die Dichte und die Spitzenzeiten unbequem werden. Die SBB setzen zwar Sonderzüge ein, doch werden die Bahnen ihren Service und die Dienstleistungen noch stärker mit den Bedürfnissen der Firmen abstimmen müssen.

Sind wir überhaupt in der Lage, diesen Mehrverkehr in Spitzenzeiten zu bewältigen?
Wir haben gewisse Freiräume, die Leute können ausweichen und sich effizienter verhalten. Car-Pooling, also das Organisieren von Mitfahrgelegenheiten bei Privatpersonen, wäre sicher eine Möglichkeit, die in grossem Stil eingeführt werden könnte. In den grossen US-Städten ist dies weit verbreitet, auch weil es oft kein angemessenes öV-System gibt. Da gäbe es auch für die Schweiz noch viel Potenzial.

Oder man könnte die Verkehrskapazität erhöhen?
Ja, wenn man das Geld in die Hand nähme, könnte man viele neue Tunnels für die Strassen und die Bahn bauen. Doch das kostet.

Inwieweit können neue Informationstechnologien die Verkehrsflüsse optimieren?
Die Informations- und Navigationssysteme können Verbesserungen bringen. Aber man darf keine zu hohen Erwartungen an eine zentrale Intelligenz stellen, die alle Verkehrsteilnehmer steuert, optimale Routen berechnet und stets das Optimum zum Ziel hat. Wir haben diesbezügliche Simulationsberechnungen erstellt und sind für das Schweizer Verkehrsnetz mit dem heutigen technologischen Stand und dem bestehenden Fahrzeugpark auf Verbesserungen von 10 bis 15 Prozent gekommen. Es lohnt sich, solche Systeme zu haben, aber es handelt sich noch um keine revolutionäre Veränderung.

Aber die autonomen Fahrzeuge.
Das ist eine andere Sache.

Inwiefern?
Sie verändern den Verkaufsablauf und ermöglichen die intensivere Nutzung der vorhandenen Kapazitäten. Autonome Fahrzeuge haben potenziell eine enorme Wirkung auf das Verkehrssystem. Ebenso das Car-Pooling. Im Moment hat jedoch noch niemand den Anreiz dazu, weil sich alle Teilnehmer den derzeitigen Verkehr noch leisten können und die Geschwindigkeiten immer noch hoch genug sind, dass niemand sagt: «So nicht mehr!»

Die Schmerzgrenze ist noch nicht erreicht.
Genau. Die selbstfahrenden Fahrzeuge werden aber ein grosser Treiber und Trend sein, die einerseits einen substanziellen Sicherheitsgewinn bringen. Anderseits kann die Anzahl der Fahrzeuge deutlich reduziert werden, wenn man sich beispielsweise auf eine autonome Taxiflotte einlässt. Die autonomen Fahrzeuge können im bestehenden Verkehrsnetz mehr Kapazität schaffen, weil sie schneller und dichter zusammenfahren, als dies heute mit den menschlichen Fahrern möglich ist. Dazu gibt es wissenschaftliche Simulationen. Andere Simulationen zeigen, dass eine selbstfahrende, elektrische Taxi-Flotte sämtliche Fahrten im Kanton Zürich übernehmen könnte, und zwar mit 15 bis 20 Prozent der bestehenden Fahrzeuge.

Wie bitte?
Das sind Simulationen, doch sie zeigen das enorme Potenzial. Man darf jedoch nicht vergessen, dass es immer noch Spitzenzeiten geben wird mit höheren Verkehrsaufkommen. In den Nebenzeiten stehen die Fahrzeuge auch in der Zukunft rum. Das Modell beruht auf den aktuellen Zahlen aus dem Kanton Zürich.

Jetzt hatte ich gehofft, dass wir in der mittelfristigen Zukunft vielleicht doch weniger Staustunden haben werden.
Spitzenzeiten bleiben Spitzenzeiten, auch in 20 und 30 Jahren.

Gespräch: Pascal Ihle

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