«Ich war ein Spätstarter»

Der Unternehmer und ehemalige Nationalrat Peter Spuhler über seine Führungsprinzipien – und was ihm Militär, Politik und Eishockey gebracht haben.

Peter Spuhler, Inhaber des Eisenbahnbauers Stadler Rail.

Leadership ist ein grosses Wort. Was verstehen Sie darunter?
Peter Spuhler: Der Begriff ist ein Sammelsurium von Ideen und Vorstellungen. Für mich kommen Faktoren zusammen wie Glaubwürdigkeit, Vorbildfunktion und Leistungsbereitschaft. Der einstige Nestlé-Chef Helmut Maucher sprach von Mut, Nervenstärke und Gelassenheit. Ich würde noch Leidenschaft hinzufügen. Das ist für mich Leadership.

Ganz konkret: Wie führt Peter Spuhler ein Unternehmen mit 7000 Mitarbeitenden?
Ich versuche Vorbild zu sein, möglichst authentisch zu bleiben und zu zeigen, dass wir selbst in schwierigen Situationen wie der jetzigen mit dem starken Franken an den langfristigen Erfolg glauben. Die Welt ist bekanntlich noch nie untergegangen.

Ist Peter Spuhler als Leader auf die Welt gekommen? Sie haben immer Führungspositionen übernommen, im Sport, im Militär, in der Politik, in der Wirtschaft.
Ich glaube schon, dass das ein Charakterzug vor mir ist. Der eine Schlag Mensch ist mehr Wissenschaftler, arbeitet lieber im stillen Kämmerlein. Der andere hat lieber eine Mannschaft um sich herum, die er antreiben und zu Höchstleistungen motivieren kann.

Wann haben Sie zum ersten Mal bewusst Verantwortung übernommen?
Ich war ein Spätstarter.

Das kann man sich gar nicht vorstellen.
Doch, doch. Ich war im Eishockey vielfach Captain. Danach in Isone bei den Grenadieren lernte ich, was es wirklich heisst, in schwierigen Situationen Verantwortung zu übernehmen. Ich mag mich noch gut an eine Episode erinnern: Bei einem Manöver marschierten wir mit 42 Kilogramm Gepäck und einem 7,5 Kilogramm schweren Gewehr im Oberland durch die Nacht, bis ich als Zugführer realisierte, dass ich die Männer drei Stunden lang in die falsche Richtung geführt hatte. Ich hatte die Karte falsch gelesen.

Was geschah dann?
Ich stellte mich morgens um vier Uhr vor die Soldaten, alle hatten blutige Schultern, und ich musste ihnen erklären, dass ich einen Fehler gemacht hatte und wir nun alle zurück müssten. Da können Sie sich vorstellen, wie die Stimmung war, was da vor sich ging…

Im Militär gibt es eine klassische Definition von Führung: rasch entscheiden und Verantwortung übernehmen. Kann man das eins zu eins auf die Wirtschaft übertragen?
Ja.  Ich habe in Isone enorm viel gelernt. Zum Beispiel Ideen gut in einen Befehl verpacken, verkaufen und dann durchziehen. Man darf nicht zu hart sein, sonst haben alle das Gefühl, man sei ein Spinner.

Interessant, dass Sie das Militär als Führungsschule erwähnen. Heute hat man den Eindruck, sie habe ausgedient.
Das ist Blödsinn. Mir hat das Militär die Möglichkeit geboten, mich als Führungsperson kennenzulernen. Zudem hat das Militär sozialpolitisch eine unglaublich wichtige Funktion. Ich bin in der Stadt Zürich aufgewachsen und hatte so die Gelegenheit, mit Leuten aus allen vier Ecken der Schweiz zusammenzukommen, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Zudem mussten wir uns im Wiederholungskurs zusammenraufen, um gemeinsam die Ziele erreichen, was heute leider nicht mehr der Fall ist. Das war und ist wichtig für den Zusammenhalt der Schweiz.

Ein Plädoyer für das Militär als Lebens- und Führungsschule.
Absolut. Erstens hat man bereits im jungen Alter die Möglichkeit, Leute zu führen, was man in der Wirtschaft nicht hat. Zweitens lernt man sich persönlich von einer neuen Seite kennen. Drittens kommt man mit unterschiedlichsten Leuten zusammen. Und viertens gilt das Motto: Man lässt niemanden zurück.

Wo haben Sie am meisten Führung gelernt: im Studium, im Sport, im Militär, in der Politik oder bei Stadler?
In der Kombination von allem. Sport ist eine hervorragende Schule, vor allem Eishockey, das eine sehr intellektuelle Sportart ist…

Wie bitte?
Die meisten unterschätzen Eishockey. Es gibt vier verschiedene Blöcke, man studiert die verschiedenen Spielzüge ein, und jeder Block spielt ein anderes System gegen die gegnerischen Blöcke. Da kommen Taktik, Intelligenz, Geschwindigkeit und Härte zusammen.

Jetzt ist Führung für Sie wesentlich einfacher. Sie haben vor 28 Jahren eine Firma mit 18 Personen übernommen, mittlerweile beschäftigt Stadler 7000 Mitarbeitende. Wenn Peter Spuhler befiehlt, gehorchen alle.
Im Militär und im Sport war dies deutlich einfacher, weil alle ähnlich gepolt sind. In einem Unternehmen wie Stadler hat man die gesamte Palette an Mitarbeitern. Einen Ingenieur muss man anders führen als jemand, der im Kastenbau oder in der Malerei tätig ist.

Wie führen Sie Stadler?
Wichtig ist die Durchlässigkeit in der Firma, dass die Philosophie und die Kultur von Stadler über die Führungsstufen im Unternehmen verbreitet werden. Ende 2015 haben wir in Valencia ein Werk mit 850 Mitarbeitenden gekauft. Diese muss man integrieren, damit sie die Stadler-Kultur übernehmen. Das ist nicht einfach.

Geht das überhaupt? Kann ein Spanier wie ein Schweizer ticken oder ein Schweizer wie ein Spanier?
Ich bin genau deshalb der Meinung, dass nicht alles von A bis Z gleich funktionieren muss. Wir sind sehr dezentral organisiert. Es wäre falsch, wenn alle zehn Produktionsstandorte so funktionieren müssten wie am Hauptsitz im Thurgauischen Bussnang. Deshalb ist es wichtig, dass Stadler nicht nur Peter Spuhler ist, sondern viel mehr. Wir haben ein starkes Management-Team, das diese Werte und Philosophie lebt und nach aussen trägt.

Was heisst stark?
Die Konzernleitung ist im Schnitt über zehn Jahre zusammen. Das ist in der Industrie essenziell. Denn ein Auftrag hat einen Durchlauf von fünf bis sechs Jahren. Wenn ich alle zwei Jahre das Team austauschen müsste, wäre dies eine Katastrophe. Deshalb muss der Kern zusammenbleiben.

Kann man Führung lernen?
Ich glaube, dass starke Leader ein angeborenes Charisma haben. Allerdings kann man einen guten, durchschnittlichen Führungsstil erlernen: Wie führe ich eine Sitzung? Wie mache in ein Controlling? Aber Charisma nicht. Man hat es – oder eben nicht.

Es gibt haufenweise Management-Literatur, die aber genau das verspricht.
Ich glaube, ich habe nach dem Studium nie mehr ein solches Buch gelesen (lacht). Wenn man ein Ziel erreichen will, dann hat man die Mechanismen im Blut. Voraussetzung ist aber, dass man die richtigen Kader an seiner Seite hat.

Was eigentlich die zentrale Aufgabe eines Chefs ist.
Das stimmt.

Auch da gibt es allerlei Theorien und Prozesse. Wie machen Sie das?
Wenn jemand mein Büro betritt,  weiss ich nach drei, vier Minuten, ob es die richtige Person ist oder nicht.

Also Bauchgefühl.
Natürlich muss er oder sie ausbildungsmässig die Grundvoraussetzungen erfüllen. Bei meinen Assistenten höre ich immer auf mein Bauchgefühl, und das hat sich bislang bewährt. Der erste führt mittlerweile das Werk bei Minsk in Weissrussland und spricht perfekt Russisch. Er ist ebenfalls HSG-Absolvent und Grenadier-Offizier. Der zweite leitet mit 32 Jahren die Produktion mit 600 Leuten in Berlin. Der dritte baut in Sydney die Produktion auf. Ein vierter arbeitet in Salt Lake City. Das finde ich super: Die jungen Leute an unsere Kultur heranführen und nach 6 bis 12 Monaten an die Front ins Ausland schicken.

Dieses Bauchgefühl widerspricht aber der starken Compliance- und Rückversicherungsmentalität in den Unternehmen.
Auch Stadler verfügt über Prozesse. Ob eine Firma letztlich aber erfolgreich ist, entscheiden nicht die Prozesse, sondern zu 80 oder 90 Prozent die Menschen. Sie sind der wesentliche Erfolgsfaktor.

Der Mensch alleine reicht aber kaum.
Natürlich muss man die Hausaufgaben machen. Man muss die Technologie im Griff haben, man muss die Konkurrenten  kennen, man muss die Märkte, vor allem die künftigen, richtig einschätzen. Aber am Schluss kommt immer der Mensch. Ohne ihn kann man selbst die besten Pläne und Strategien nicht umsetzen.

In letzter Zeit wird der Ruf nach Leadern immer lauter – sei es in der Politik oder in der Wirtschaft. Gibt es zu wenig charismatische Persönlichkeiten?
Wenn sie in einer börsenkotierten Firma arbeiten, die alle drei Monate ihre Quartalszahlen präsentieren muss, dann sind vor allem prozessorientierte Führungspersonen gefragt. Sie müssen mit der zunehmenden Regulierungsflut umgehen können. Alfred Escher, ein Vollblutunternehmer und Macher erster Güte, würde heute in einem börsenkotierten Unternehmen untergehen.

Und Peter Spuhler, ginge er auch unter?
Das weiss ich nicht. Vielleicht geht Stadler einmal an die Börse. Mein grösster Vorteil ist, dass ich immer unter dem Radar tätig sein konnte. Ich habe klein begonnen, mit 18 Mitarbeitern, niemand nahm uns ernst. So konnten wir uns in aller Ruhe entwickeln.

Welches sind die grossen Unterschiede im Leadership zwischen der Politik und der Wirtschaft?
Dank unseres Milizsystems kommt unglaublich viel Praxiswissen in die politische Kultur. Das ist ein riesengrosser Vorteil gegenüber einem professionellen Parlament wie zum Beispiel in Deutschland, wo nur Funktionäre und graue Mäuse tagen. Der Nachteil unseres Politsystems liegt in der Regierungsbildung. Da müssen die Fraktionen jemanden für den Bundesrat vorschlagen, der primär wählbar ist und von dem man nicht weiss, ob er ins richtige Departement kommt. Hätte ich mich zum Beispiel als Bundesrat zur Verfügung gestellt und würde als Nichtjurist ins Justizdepartement gewählt, käme das nicht gut raus. Das gibt es in keinem anderen Land.

So würden Sie nie die Stadler-Geschäftsleitung zusammenstellen.
Stimmt. Aber so ist nun einmal unser politisches System. Das muss man akzeptieren. Die Folge ist, dass wir wohl kaum die am besten zusammengestellte Regierung haben. Deshalb dürfte da und dort der Ruf nach mehr Leadership im Bundesrat laut werden. Dafür sind wir im Parlament punkto Praxiswissen und Pragmatismus weltweit unschlagbar.

Gleichwohl scheint das Bedürfnis nach starken Führungspersönlichkeiten gross zu sein. Jedes Mal, wenn es einen Spitzenjob zu vergeben gilt, Bundesrat oder Präsident von Economiesuisse, taucht der Name Peter Spuhler auf.
Ich habe das Amt als Bundesrat von Anfang an kategorisch abgelehnt, weil ich dann konsequenterweise meine Firma verkaufen müsste. Und dieser Preis ist mir zu hoch.

Aber dass sich selbst die Linken einen SVP-Leader als Bundesrat vorstellen können, muss Ihnen schmeicheln.
Ich habe immer eine konsequente, liberale Wirtschaftspolitik verfolgt, war anständig im Ton. Das ist auch ausserhalb unserer Fraktion offensichtlich gut angekommen.

Ist es möglich, dass die Schweiz die anstehenden Probleme – Europa-Politik, Reform der Altersvorsorge, des Gesundheits- und Steuersystems – dank Leadership löst?
Schaut man sich das internationale Umfeld an, dann wird sofort klar: Wir haben einen sehr guten Job gemacht, trotz aller Schwierigkeiten, die es gibt! Die Schweiz steht heute sehr gut da, und wir werden im Ausland viel besser wahrgenommen, als wir uns selber sehen. Ich bin sehr viel im Ausland unterwegs und erlebe das tagtäglich. Der zweite grosse Vorteil ist die direkte Demokratie, die verhindert, dass die Regierung abhebt. Das sieht man in Deutschland und in fast allen EU-Staaten, dass die Regierungen am Volk vorbei regieren. Das Einbinden des Volks in die politischen Prozesse ist ein grosser Pluspunkt, obschon dies nicht immer einfach ist. Das sieht man jetzt bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. Dafür ist der Spalt zwischen Volk und Regierung nirgends so klein wie in der Schweiz. Das gibt schon Power.

Wie binden Sie die Leute in Ihre Firma ein?
Indem ich überzeuge. Wir haben selten Kampfabstimmungen. Ich versuche, von Anfang an sehr offen zu informieren und das Kader in Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen.

Können Sie auch gegenteilige Meinungen akzeptieren?
Absolut. Sowohl in der Geschäftsleitung als auch im Verwaltungsrat hat man mir auch schon die rote Karte gezeigt. Und das ist gut so. Ich will Leute um mich herum, die mich herausfordern, falls nötig kritisieren und nicht nur alles abnicken.

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