«Ich sage das nicht, um die Schweiz zu verführen»

Luxemburgs Aussenminister Jean Asselborn zur Zukunft der EU – und weshalb das Grossherzogtum nur dank der EU-Mitgliedschaft souverän geblieben ist.

Luxemburgs Aussenminister Jean Asselborn.

Hört man den verschiedenen EU-Repräsentanten zu, hat man das Gefühl, die EU befinde sich an einem Scheideweg. Sie selber sagten im letzten November: «Die EU kann unheimlich schnell zerbrechen.» Ist die Lage wirklich so dramatisch?
Jean Asselborn: Als ich 2004 Aussenminister wurde, hätte ich mir nie vorstellen können, dass ausgerechnet jene Länder, die wir nach dem Fall der Mauer in die Europäische Union aufgenommen haben, sich gegen die europäischen Werte wenden würden.

Sie sprechen von Tschechien, Polen, Ungarn und der Slowakei, welche die Balkan-Route abgeriegelt haben?
Genau. Diese Länder haben nicht nur die europäischen Verträge unterzeichnet, sondern auch die Charta der Menschenrechte. Solidarität und Mitgefühl gegenüber Menschen, die vom Krieg verfolgt werden und bei uns Schutz suchen, gehören zu unseren gemeinsamen europäischen Werten. Wir haben die osteuropäischen Länder, die jenseits der Mauer in Unfreiheit gelebt hatten, in unsere Gemeinschaft aufgenommen, in der Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gelten. Dass dies jetzt in einer Krisensituation plötzlich nicht mehr gelten soll, ausgerechnet von Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, betrübt mich. Denn es geht um den Kern, die Essenz der EU und ihrer Werte. Wenn diese nicht mehr gelten, wird es schwierig für die EU.

Sie sprechen von europäischen Werten, von der europäischen Idee. Was verstehen Sie darunter?
Die EU ist die Folge einer der schwersten Katastrophen der Menschheit, dem Zweiten Weltkrieg. Man sieht, wohin die Nationalismen Europa und die Welt geführt haben: zu Hass, zu Rassismus, zu Krieg, zu Vernichtung. Deshalb ist die EU in erster Linie ein Friedensprojekt, das in Europa die Völker und die Länder über wirtschaftliche Verträge und Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Toleranz und Solidarität vereinen soll.

Wie wollen Sie einem jungen arbeitslosen Griechen, Franzosen oder Spanier dieses Konzept erklären? Er hat ganz andere, unmittelbare Sorgen.
Wir müssen der jungen Generation erstens klar machen, dass Frieden, Demokratie, Toleranz, Freiheit und Menschenrechte keine Selbstverständlichkeit sind. Wir müssen zu diesen Errungenschaften grosse Sorge tragen. Zweitens ist die EU auch ein soziales Projekt. Die Menschen können erwarten, dass die sozialen Netze in Krisensituationen nicht zusammenbrechen und dass die EU Menschen in Schwierigkeiten hilft. So wird der milliardenschwere Juncker-Plan umgesetzt, mit dem die Beschäftigungspolitik in Europa angekurbelt werden soll. Drittens müssen wir den Jungen erklären, dass die Nationalismen stärker werden, wenn die europäische Idee geschwächt wird. Und übersteigerte Nationalismen sind unberechenbar und können zerstörerisch werden, wie das 20. Jahrhundert eindrücklich gezeigt hat.

Verstehen das die Jungen, die in einem Europa der wirtschaftlichen Schwäche, der hohen Arbeitslosenzahlen und der fehlenden Perspektiven aufgewachsen sind?
Wichtig ist zunächst, dass man den jungen Spaniern, Italienern und Griechen klar und deutlich macht, dass sie keine verlorene Generation sind. Viele dieser jungen Menschen klammern sich an die Hoffnung, dass Europa fähig sei, ihnen zu helfen und eine Perspektive aufzuzeigen.

Und ist die EU fähig dazu?
Wir haben enorme Anstrengungen unternommen, um den Euro zu stabilisieren und Griechenland zu helfen. Wir haben die Griechen nicht fallen gelassen, obwohl es starke Kräfte gab, die darauf hinwirkten. Das darf man nicht vergessen. Wir helfen in Krisen. Jetzt ist es wichtig, dass sich die EU nach diesen wirtschaftlichen Rettungsmassnahmen wieder stärker für die sozialen Werte engagiert.

Reicht das, um einen jungen Menschen zu überzeugen?
Wir haben keine Alternative. Wir müssen kämpfen für die junge Generation und für die europäische Ideale. Erinnern Sie sich, wie es die junge, perspektivlose Generation war, die den sogenannt Arabischen Frühling ausgelöst hat? Eine ähnliche Situation haben wir in gewissen europäischen Ländern, weshalb wir dringend Gegensteuer geben müssen. Wir müssen zeigen, dass es sich lohnt, für Europa zu kämpfen.

Müssen die europäischen Staatschefs mehr für dieses Europa der Zukunft kämpfen?
Die heutigen Regierungschefs sind nicht weniger europäisch als die früheren. Helmut Schmidt, François Mitterrand oder Helmut Kohl haben mit dem Fall der Mauer, der Wiedervereinigung Deutschlands und der Osterweiterung unglaubliche Ereignisse erlebt, die enorme Auswirkungen auf Europa hatten. Deshalb standen sie mehr im Rampenlicht. Ich wünschte mir, dass die Minister und Präsidenten bei jenen Herausforderungen, die eine übernationale Dimension haben, nicht primär ihre nationale Brille aufsetzten, sondern mehr eine europäische.

Welches sind derzeit die grössten Probleme?
Wir haben drei grosse Herausforderungen, die kein Land alleine lösen kann. Erstens die Flüchtlingskrise, welche die Gesellschaft zu polarisieren droht. Zweitens den Terrorismus. Hier geht es darum, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, ohne ihre Grundrechte und ihre Freiheit zu gefährden. Und drittens das schwierige wirtschaftliche Umfeld, die Rezession und die wachsende soziale Ungerechtigkeit. Das sind alles keine lokalen, sondern supranationale Probleme, die kein europäisches Land alleine lösen kann. Es ist sonnenklar, dass man mit der Bündelung der Mittel mehr erreichen kann als im Alleingang und mit rein nationalen Antworten.

Der Preis ist aber hoch. Dadurch geben die Staaten laufend Souveränität ab, wogegen ein Teil der Bevölkerung und gewisse Regierungen protestieren. 
Nehmen Sie das Beispiel Luxemburg. Unser Land hat ein gutes Gleichgewicht gefunden zwischen europäischer Integration und nationaler Souveränität. Mehr noch: Nur dadurch, dass Luxemburg Teil der EU ist, konnte es seine Souveränität wahren, den Frieden sichern und den Wohlstand erhöhen.

Wie bitte? Da würde Ihnen die Mehrheit der Schweizer glatt widersprechen.
Unsere Geschichte unterscheidet sich auch grundsätzlich von der schweizerischen. Ende 19. Jahrhundert war unser Wahlspruch: «Wir wollen bleiben, was wir sind.» Trotz unserer Neutralität wurden wir im Ersten und im Zweiten Weltkrieg überfallen. Deshalb wurde uns Luxemburgern bewusst, dass Neutralität kein zukunftstaugliches Konzept mehr war.

Was war die Antwort?
Wir waren überzeugt, dass internationale und supranationale Allianzen der einzig richtige Weg wären, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Deshalb war Luxemburg ein Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und spielte im europäischen Einigungs- und Integrationsprozess eine tragende Rolle. Deshalb sage ich: Europäische Integration ist nicht gleichbedeutend mit souveräner Selbstauflösung.

Sondern?
Luxemburg kann in allen wichtigen Entscheiden mitdiskutieren, mitbestimmen, mitgestalten und hat seine staatliche Souveränität dadurch verteidigt. Ich sage das nicht, um die Schweiz zu verführen.

Das dürfte Ihnen hierzulande schwer fallen.
Das Schweizer Erfolgsmodell unterscheidet sich grundsätzlich vom luxemburgischen, nicht zuletzt auch aufgrund der historischen Erfahrung. Das neutralitätsbezogene System ist deshalb so erfolgreich, weil es die nationale Eigenverantwortung in den Mittelpunkt stellt. Die über Generationen herangewachsene Demokratieerfahrung der Schweiz lässt sich nicht auf andere Länder oder Institutionen übertragen.

Sie haben sich öffentlich gegen Volksabstimmungen und Referenden in den EU-Staaten ausgesprochen.
Ich bin in keiner Art und Weise Antidemokrat. Ich wehre mich dagegen, wenn Rechtspopulisten das Instrument des Referendums als Denkzettel gegen die Regierung instrumentalisieren, wie dies in den Niederlanden mit dem EU-Ukraine-Abkommen passiert ist. Damit können keine komplexen Fragen beantwortet werden, weil wir in Europa den basisdemokratischen Diskurs, wie ihn die Schweiz kennt, nicht haben. Ich bin überzeugt, dass mehr solcher Referenden letztlich nicht dazu beitragen, Europa weiterzubringen, sondern die EU kaputt zu machen.

Wäre dann nicht die Lösung, dass die Bevölkerung in europapolitischen Diskussionen mehr Mitspracherecht hätte?
Wir verfügen in Europa mit der gewählten parlamentarischen Demokratie über genügend Plattformen, um uns mit dem Pro und Contra von EU-Fragen auseinanderzusetzen. Dazu braucht es keine Referenden. Bei den wirklich grossen Fragen, ob ein Land neues Mitglied der EU werden oder den Euro einführen solle, muss das Volks selbstverständlich das letzte Wort haben.

Die Schweiz muss eine sehr komplexe Aufgabe lösen, die sie sich mit einer Volksabstimmung selber eingebrockt hat. Wie soll die Masseneinwanderungsinitiative umgesetzt werden? Haben Sie einen Vorschlag?
Ich werde mich davor hüten, mich in die Angelegenheiten der Schweiz einzumischen. Luxemburg wird sich für eine für die EU und die Schweiz zufriedenstellende Lösung einsetzen, damit sich die Masseneinwanderungsinitiative mit den bilateralen Verträgen vereinbaren lässt. Aus der Sicht der EU bleibt es jedoch nach wie vor von Bedeutung, dass das Prinzip der Personenfreizügigkeit nicht beeinträchtigt wird. Gleichzeitig gilt es natürlich, den Wunsch der Schweiz und ihre Eigenbestimmung zu wahren und zu respektieren. Wir müssen nur noch die Landepiste finden.

Und wann wird gelandet?
Sicher nicht vor der Brexit-Abstimmung. Vorderhand muss die Schweiz definieren, was sie in der Einwanderungsthematik unter Masse versteht. Wie viele Zuwanderer hatte die Schweiz letztes Jahr?

Gut 70’000.
Bei einer Bevölkerung von 8 Millionen. In Luxemburg wandern 30’000 Ausländer ein, bei einer Bevölkerung von 600’000. Und wir wissen: Ohne ausländische Wohnbevölkerung und Zuwanderung sind unser Land und unsere Wirtschaft nicht funktionsfähig.

Gespräch: Pascal Ihle

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Name: Jean Asselborn
Funktion: Aussenminister des Grossherzogtums Luxemburg
Alter: 65
Familie: Verheiratet, zwei Töchter
Ausbildung: Studium des Zivilprozessrechts an der Universität Nancy II (Frankreich)

Karriere:
Seit 1972: Mitglied der Luxemburger Sozialistischen Arbeiterpartei (LSAP)
1976 bis 2004: Verwaltungschef des Krankenhauses Steinfort
1982 bis 2004: Bürgermeister in seiner Geburtsstadt Steinfort
1984 bis 2004: Mitglied der luxemburgischen Abgeordnetenkammer
Seit 2004: Minister für auswärtige Angelegenheiten
Seit 2004: Vertreter Luxemburgs im Rat der EU
Seit 2013: zusätzlich Minister für auswärtige und europäische Angelegenheiten sowie Minister für Immigration und Asyl

Ehrungen: 
2010: Grosskreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland
2013: Ordre national de la Légion d’honneur Frankreichs
2016: Deutsch-Französischer Medienpreis für das «grosse Engagement des luxemburgischen Aussenministers für die europäische Integration»

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